Längst ist Peter Handke ein moderner Klassiker. Jetzt hat dies auch das Nobel-Komitee in Stockholm gemerkt. Das Votum für ihn folgt rein literarischen Gesichtspunkten. Gut so.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es soll ja Menschen geben, die Bob Dylan für eine Erfindung von Peter Handke halten, weil er durch dessen Werke spukt. Einem seiner vielleicht ergreifendsten Romane, seinem Mutter-Buch „Wunschloses Unglück“, ist als Motto eine Textzeile des amerikanischen Songwriters vorangestellt: „It’s alright, Ma (I’m only bleeding)“. Gleichwohl gehörte Handke in der ihm eigenen unerschrockenen Weise zu den entschiedenen Kritikern, als Dylan 2016 der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde. Die Auszeichnung habe ihre Autorität verloren, schimpfte Handke: „Wie sollen diese Hampelmänner in Stockholm denn da etwas beurteilen?“

 

Nun haben die von größeren Skandalen als ihrer Liebe zur Musik ihrer Jugend gründlich durchgeschüttelten Hampelmänner in Stockholm versucht, ihre Autorität zurückzugewinnen. Handke ist seit vielen Jahren einer jener Kandidaten, die einem als Erstes in den Sinn gekommen wären. Bisher hat das als zuverlässiges Ausschlusskriterium gereicht. Offenbar hat sich in dieser Hinsicht in der Schwedischen Akademie etwas getan.

In Randzonen unterwegs

Spät, aber nicht zu spät wird dem 1942 in Griffen geborenen Österreicher die Ehrung für ein Lebenswerk zuteil, das literarische Kompromisslosigkeit und Radikalität immer mit dem wie auch immer umstrittenen großen öffentlichen Auftritt zu verbinden wusste. Handke ist kein Gewährsmann für politische Korrektheit, und die vom Metoo-Skandal gebeutelte Jury kann sich in seinem Namen wohl kaum von vergangenen Vergehen reinwaschen. Aber wenn es darum geht, alle literaturfremden Erwägungen auszuschalten, könnte man sich niemanden denken, der auf ähnlich unbeirrte Weise dem Hölderlin-Wort Folge geleistet hätte, dichterisch auf dieser Erde zu wohnen.

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Ein großer Teil des öffentlichen literarischen Lebens lebt davon, das Unverfügbare der literarischen Produktivität auf dem Feld der leibhaftigen Erscheinung ihres Erzeugers auszuwalzen. Als könnte die Suggestion einer bestimmten Frisur, eines Bärtchens, irgendeiner Ansicht oder Absicht sprechender sein als das, was die Texte selbst zu sagen haben. Es gibt jedoch Autoren, die sich dieser Zweiteilung von vornherein entziehen, weil ihr Werk identisch ist mit dem Akt seiner Hervorbringung: einer einzigen Lebensäußerung, die unterschiedliche Gestalten annimmt und sich immer weiterschreibt und an der alles den gleichen Anteil hat, das Große wie das Kleine. Diese Einheit verkörpert Peter Handke in heiterer, zuletzt immer altersweiserer Konsequenz. Jedes seiner Bücher ist ein Buch des Lebens, das er mit jedem neuen Theaterstück, jeder neuen Erzählung, jedem neuen Versuch fortsetzt.

Handkes literarische Doppelgänger sind in Randzonen unterwegs: Sei es die Borderline zwischen Psychose und Wirklichkeit in seiner frühen Erzählung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, sei es die Reise durch die amerikanische Provinz im „Kurzen Brief zum langen Abschied“ auf der Suche nach einer verlorenen Frau oder die Fahrt von Kärnten nach Slowenien in der „Wiederholung“ auf der Suche nach dem verlorenen Bruder – immer geht es darum, den Mythos des Jetzt zu finden oder „die Stunde der wahren Empfindung“, die Sinne zu schärfen für die Stille hinter dem Weltlärm.

Pawlow’scher Empörungsreflex

Nichts freilich hat diesen Rumor so entfesselt, wie Handkes umstrittene Reise ans Grab des serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic, eine Reise, von der er sich mittlerweile distanziert hat. Immer noch funktioniert bei der Paarung Handke und Jugoslawien der Pawlow’sche Reflex der Empörung, weil er gewagt hat, der offiziellen Lesart der Dinge, die in den neunziger Jahren zu den Balkankriegen geführt haben, seine eigene Erfahrung entgegenzusetzen und die Gebietsaufteilung der öffentlichen Meinung infrage zu stellen. Die letzten Preisverleihungen gerieten zu Glaubenskriegen.

Es ist dazu mittlerweile alles gesagt. Aber wie immer in Glaubensfragen empfiehlt es sich, auf die Schrift zu rekurrieren. Das sind in diesem Fall die sieben Bücher, die Handke der geschundenen Region gewidmet hat, und nicht die medialen Kolportagen, die über sie erzählt werden. Während sich deren Seiten im Licht der Zeit trüber und trüber verfärben, treten Konturen in den literarischen Reiseberichten klarer und klarer zutage.

Jedem neuen Buch von Peter Handke blickt man mit erwartungsvoll gemischten Gefühlen entgegen: der Furcht vor Verstiegenheit, aber auch der Hoffnung, über die polierten Absehbarkeiten literarischer Dutzendware erhoben zu werden und auf etwas zu stoßen, das auch im eigenen Leben Epoche machen würde. Zuletzt hat sich Peter Handke noch einmal in seinem Roman „Die Obstdiebin“ aus seiner Wahlheimat in der Pariser „Niemandsbucht“ auf große Fahrt begeben. Ein letztes Epos, das von einer Reise vom Rand ins Innere handelt, auf immer verwinkelteren Wegen, die dem Leser einiges an Ausdauer, Zähigkeit – im schlimmsten Fall sogar Gefolgschaft abverlangen. Doch wer ins Ziel kommt, blickt mit anderen Augen auf die Welt.

Schwer vorstellbar, dass sich dieser Don Quichotte in das Hofzeremoniell der Preisverleihung im Dezember in Stockholm fügen wird. Dies dürfte er dann tatsächlich mit Bob Dylan gemein haben.