Literaturnobelpreis Muttergeschichten

Good Girl und Bad Boy? Olga Tokarczuk und Peter Handke Foto: imago//Jonas Ekströmer

Olga Tokarczuk und Peter Handke haben in Stockholm ihre Nobelvorlesungen gehalten. Ein Gegensatz – oder doch nicht?

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Die Rollen sind klar verteilt. Olga Tokarczuk hat den guten Part. Peter Handke ist der Bösewicht. Sie hat sich schön gemacht, er trägt ein andersweißes Hemd mit komischem Muster und offenem Kragen. Sie legt in einem wohlgebauten Vortrag Rechenschaft über ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin ab, er predigt einen seiner kryptischen Texte aus alten Tagen dahin. Sie spricht aus der Mitte unserer Zeit, über Fake-News, Internet, Klimawandel, er redet über Karawanenmusik, über die Dörfer – vor allem aber über sich. Wer ernsthaft geglaubt hatte, Handke werde die Gelegenheit nutzen, sich zu seinen umstrittenen Positionen zum jugoslawischen Bürgerkrieg zu verhalten, auf seine Kritiker zugehen, versöhnliche Worte finden, sah sich getäuscht. Erwartungsgemäß, wie allerdings auch die ersten Reaktionen auf diesen bipolaren Auftritt erwartungsgemäß ausfallen.

 

Doch Literatur ist kein Kasperletheater, so wunderbar sie sich auf diese Weise den jeweiligen Intentionen anverwandeln ließe, zumal, wenn wie hier ein Lager der Empörten dem der Entflammten unversöhnlich gegenübersteht. Die Geschichte der diesjährigen Nobelpreisvorlesungen lässt sich aber auch ganz anders erzählen, nicht als Ausschließung, sondern als Ergänzung.

Zur Erinnerung: Die Schwedische Akademie hatte nach ihrem Skandaljahr 2018 diesmal im Oktober gleich zwei Literaturnobelpreisträger verkündet: Tokarczuk erhält den Preis für das Jahr 2018, Handke für 2019. Beide Preise werden am Dienstag in Stockholm vergeben. Während die Wahl der polnischen Autorin allseits begrüßt wurde, holte den Österreicher Handke wie schon bei früheren Preisverleihungen die Vergangenheit seiner einseitigen Parteinahme im Jugoslawienkonflikt ein.

Welt der Ich-Erzählungen

Nach Ansicht seiner Gegner hat er die von Serben begangenen Kriegsverbrechen relativiert oder geleugnet. Seitdem tobt die Debatte. Und Handkes öffentliche Äußerungen im Vorfeld der Nobelzeremonie waren nicht unbedingt dazu geeignet, die Kritiker zu besänftigen. In früheren Zeiten hätten sie wohl Duellforderungen nach sich gezogen. Soweit der Stand vor der Vorlesung, die die Preisträger halten müssen, um das Preisgeld in Höhe von je einer Million schwedischen Kronen, rund 95 000 Euro, zu erhalten.

Das erste Wort hat Olga Tokarczuk, sie hält ihre live im Internet gestreamte Rede auf Polnisch, auf der Website des Nobelpreises kann die englische Übersetzung heruntergeladen werden. Eines der ersten Bilder, an das sie sich bewusst erinnert, ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer schwangeren Mutter. Aus dieser gewissermaßen embryonalen Perspektive entwickelt Olga Tokarczuk eine Erzählung von Verlust, Trennung und dem Versuch, die verlorene Ganzheit wiederherzustellen.

Sie erinnert daran, wie der Traum des polnischen Barockgelehrten Johan Amos Comenius nach universeller Erkenntnis sich im Zeitalter des Internet erfüllt: „Doch erfüllte Träume sind meistens Enttäuschungen.“ Auf dem großen Webstuhl der Zeit würden aus Informationen, Daten und Fiktionen auch die Lügen gefertigt, an denen die Welt zugrunde geht. „Wir leben in einer Welt der Ich-Erzählungen“, sagt Tokarczuk in ihrem einstündigen Vortrag. Macht, Naturbeherrschung und Verantwortungslosigkeit hätten die Welt verdinglicht, zerstückelt und für unsere Zwecke zugerichtet. Demgegenüber gelte es, wieder einen übergeordneten Standpunkt zurückzugewinnen, der den organischen Zusammenhang aller mit allen realisiert. „Deshalb erzähle ich Geschichten.“

Dann folgt Handke. „Spiele das Spiel. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung.“ Eine Suada von Imperativen aus dem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ eröffnet seinen Auftritt, den man Vortrag kaum nennen will. In die Rezitation hochgestimmter Anrufungen des 40 Jahre alten Werks flicht er „unerhörte Begebenheiten“, die ihm einst die Mutter anvertraut hat. So steht auch hier die Mutter am Anfang des Erzählens. Eine dieser für sein „Schreiberleben entscheidenden Episoden“ handelt von einem anderen Kind, das nicht von seiner leiblichen Mutter aufgezogen wird, einer vom Hofherrn vergewaltigten Magd, sondern von deren Arbeitgeberin. Eines Tages entdeckt das Kind an den weichen Händen der Magd seine wahre Zugehörigkeit. Handke hält zu Tränen gerührt inne. Im Refrain eines Sängers in dem Roman „Der kurze Brief zum langen Abschied“ klingt die Begebenheit wider: „Und dieses Kind war ich! Und dieses Kind war ich!“

Schwungkräfte der Seele

Man begegnet den Brüdern der Mutter, Gregor und Hans, die durch das Werk geistern. Dann verkündet wieder die emphatische Sängerin Nova des dramatischen Gedichts den „heiligen Tag“. Handke zählt auf, was seine Schwungkräfte in Gang gebracht hat, die Western von John Ford, die Musik von Johnny Cash und Leonard Cohen, die slowenisch-slawischen Lauretanischen Litaneien – eine zitiert er im Original. Das ist natürlich alles sehr befremdlich und für Handke-Verächter ein gefundenes Fressen.

„Die Natur ist das einzig stichhaltige Versprechen“, heißt es in „Über die Dörfer“. Wer genauer hinhört, entdeckt zu seinem Erstaunen, dass die schönste Erklärung für den eigenartigen Auftritt Handkes eigentlich seine Vorrednerin gegeben hat. Sie glaube an die eigene Wahrheit der Fiktion, hat Olga Tokarczuk gesagt. Wie ihr geht es auch Handke um den Ausgang aus einer entzauberten, stumpf und erlebnisarm gewordenen Welt, um das Wiederfinden eines objektiven Standpunkts in der Dichtung. Es klingt nur anders. So ist Literatur nun einmal.

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