Am Wochenende vom 21./22. Juli werden 150 000 Menschen in Stuttgart zu Popkonzerten strömen. Die Lust auf musikalische Unterhaltung erreicht damit einen neuen Höhepunkt.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Hupende, genervte Autofahrer auf den überlasteten Straßen rund um den Neckarpark. Eng aneinander gedrängte Menschen in den Zügen, die den Bahnhof Cannstatt verlassen. Die Stimmung nach dem Konzert der Rolling Stones vor anderthalb Wochen in Stuttgart ist gelöst und angespannt zugleich. Eine Situation, mit der Konzertliebhaber in Stuttgart am übernächsten Wochenende wieder klarkommen werden müssen: Auf dem ausverkauften Cannstatter Wasen spielen am Samstag die Toten Hosen, im Stadion singt am Sonntag Helene Fischer, wofür es nur noch Restkarten gibt, und auf dem Schlossplatz finden von Freitag bis Sonntag gleich drei hochkarätige Konzerte statt – Kraftwerk, Lenny Kravitz und die Fantastischen Vier treten auf.

 

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Doch damit nicht genug. Dazu kommen die zahlreichen Bands, die beim Sommerfest der Kulturen auf dem Marktplatz gastieren, sowie weitere Konzerte. Die sonstigen Auftritte in der Region – etwa Chris de Burgh auf der Esslinger Burg – gar nicht erst mitgezählt, werden sich allein in Stuttgart an jenen drei Tagen rund 150 000 Menschen Popmusikkonzerte anhören.

Das ist eine enorme und für Stuttgart bisher einmalige Zahl. Aber sie passt ins Bild. Einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge wurden im vergangenen Jahr im Liveveranstaltungsbereich in Deutschland fünf Milliarden Euro Umsatz erzielt, 31 Prozent mehr als bei der vorangegangenen Studie aus dem Jahr 2013. Insgesamt wurden 113 Millionen Eintrittskarten verkauft, der überwältigende Teil davon entfällt auf Popkonzerte. Mit ähnlich extremen Veränderungen, allerdings in der entgegengesetzten Richtung, entwickelt sich hingegen das Tonträgergeschäft. Wurden vor zehn Jahren in Deutschland noch 105 Millionen Musik-CDs verkauft, waren es im vergangenen Jahr nur noch rund 62 Millionen. Insgesamt hat die deutsche Musikindustrie mit CDs, Schallplatten, DVDs und Downloads sowie den Einnahmen aus Streamingdiensten im vergangenen Jahr nur noch 1,5 Milliarden Euro umgesetzt, zur Jahrtausendwende waren es noch 2,5 Milliarden Euro.

Die Branche kriselt – und feiert

Dies ist der erste Grund für geballte Häufungen wie jene in Stuttgart. Da den Künstlern Einnahmen aus dem Plattenverkauf wegbrechen, gehen immer mehr von ihnen immer häufiger auf Tournee. Von der Sommer- und Weihnachtsferienzeit abgesehen, gibt es in der Region Stuttgart so gut wie keinen Tag im Jahr, an dem nicht auswärtige Popmusiker auf irgendeiner Bühne stehen. Im Sommer kommen nah und fern unzählige Festivals dazu, die wie Pilze aus dem Boden schießen – aktuell verzeichnet das Deutsche Musikinformationszentrum bundesweit mehr als 500 regelmäßig stattfindende Festivals. Bei der ersten gesamtdeutschen Erfassung 1993/94 waren es rund 140. Darunter sind Megaevents wie das seit Jahren Monate im Voraus ausverkaufte Southside-Festival bei Tuttlingen mit 50 000 Besuchern, aber auch jede Menge gar nicht mal so kleiner Festivals auch rund um die Region Stuttgart.

Gesalzene Eintrittspreise scheinen die Besucher dabei nicht zu schrecken. Der Durchschnittspreis für ein verkauftes Veranstaltungsticket in Deutschland ist in den vergangenen fünf Jahren laut den Branchenstatistiken von 30,20 auf 44,04 Euro geklettert – stattliche Summen, über die sich die Besucher vieler Konzerte hierzulande aber sogar freuen würden. Die Toten Hosen, einst eine Punkband, verlangen auf dem Wasen 54 Euro, der frühere Straßenmusiker Rea Garvey will für sein Konzert im September in der Porsche-Arena 57 Euro pro Ticket, und die Scorpions nehmen für ihren Auftritt in zwei Wochen vor dem Ludwigsburger Schloss sogar 70 Euro. Nach oben gibt es ohnehin keine Grenzen: aktuell mindestens 90 Euro für die Konzerte auf dem Schlossplatz, vor zwei Wochen bis zu 600 Euro für die Rolling Stones.

Warum Tickets so teuer sind

Die Veranstalter begründen dies neben gestiegenen Produktionskosten vor allem mit den explodierenden Gagenforderungen der Musiker. Da ist etwas dran. So belegt eine Rangliste des Wirtschaftsfachblatts „Forbes“, dass die vermeintliche Alternativeband Red Hot Chili Peppers vergangenes Jahr 54 Millionen Dollar Einnahmen erzielte. Sie und viele andere profitieren neben den früher ausschließlich jungen Popkonzertbesuchern auch von einem immer älter werdenden Publikum, das mit seinen Stars gealtert ist. Am 31. Juli zum Beispiel wird die 77-jährige Joan Baez vor dem Ludwigsburger Schloss ein Konzert geben. Musikerinnen wie sie haben das Lebensgefühl einer ganzen Generation geprägt; sowohl aus seliger Nostalgie wie auch aus ungebrochener Liebe zu ihrer Musik begleiten viele Anhänger der ersten Stunde sie noch heute. Deshalb ist auch dieses Konzert ausverkauft.

Dabei sein ist alles. Das ist zwar längst nicht für alle, aber doch für viele Besucher mittlerweile auch ein Motiv für Konzertbesuche. Es ist Ausweis einer um sich greifenden Eventkultur, die sich zur Gigantomanie hochschaukelt. Kommen immer mehr Besucher zu Konzerten, braucht es immer größere Hallen, Plätze oder gar Stadien. Somit braucht es immer aufwendigere Logistik und immer größere Videoleinwände. Das verschlingt immer mehr Geld, das der Besucher zu zahlen hat und das den Künstler mit einer noch größeren Aura ausstattet. Wodurch der Starrummel und das Dabei-seinWollen noch größer werden und die nächste Tournee noch opulenter angesetzt wird.

Helene Fischer etwa gibt in diesem Jahr nach fünf Abenden in der Schleyerhalle bereits ihr sechstes Konzert in Stuttgart – in der Summe werden sie in Stuttgart über 100 000 Menschen gesehen haben. Auch so kommt sie zu dem Titel „Europas erfolgreichste Livekünstlerin“, den ihr findige Marketingstrategen verpasst haben und die den Starrummel weiter befeuern.

Die Lust am Live-Erlebnis

Der Zuspruch zeugt in erster Linie – und beim Gros des Publikums – immer noch von der ungebrochenen Lust am Livekonzert. Musikwissenschaftler haben dafür zahlreiche Erklärungen: die zunehmende Schwierigkeit, in einer individualisierten Welt Gemeinschaft zu erleben und dieses seltene Gefühl bei einem Konzert zumindest für wenige Stunden wahrnehmen zu können. Eine Abenddramaturgie, die es im Alltag vielfältig orientierten Menschen möglich macht, sich kollektiv auf ein Ereignis zu fokussieren. Eine Zäsur, um den Alltag aufzubrechen. Musik als ein – trotz der lebhaften Begleitumstände – Ruhepol, der einen alles rundherum ausblenden lässt. Sogar historische Parallelen zur Epoche der Aufklärung werden bemüht, in der die Menschen in der Autonomie der Kunst eine Befreiung von staatlicher und kirchlicher Obrigkeit suchen – so wie sich heute beim Abrocken vor der Bühne viele vielleicht von den steifen Konventionen im Büro distanzieren wollen.

Besonders für Deutschland ließe sich den Thesen der Wissenschaftler hinzufügen, dass deutschsprachiger Gesang auch im Pop- und Rockbereich längst den Beigeschmack des Provinziellen abgestreift hat und sich die deutsche Musik in den letzten Jahren souverän von der lange dominierenden angloamerikanischen Musik emanzipieren konnte. Auch viele deutsche Bands und Künstler füllen mittlerweile regelmäßig die ganz großen Hallen – vor 20 Jahren wäre dies undenkbar gewesen.

Theorie und Praxis

Wahrscheinlich ist die Erklärung aber viel simpler. Es ist der Wunsch, mit dem Ereignis zu verschmelzen, den Künstler live vor Augen zu haben und ihm beim Vorführen seiner Musik zuzuhören. Sich – trotz besserem Wissen – dem Gefühl hinzugeben, dass der Künstler just in diesem Augenblick nur für einen selbst aufspielt. Sich im Takt zu wiegen und die bekannten Hits mitsingen zu können, so man denn will. Und, trotz vieler Tourneen, bei denen die Musiker allabendlich die exakt gleichen Songs in der gleichen Reihenfolge spielen und sogar allabendlich die gleichen Anekdoten erzählen: die absolute Singularität eines Livekonzerts, gegenüber der alles andere nur eine Reproduktion sein kann.

Dass die Veranstaltungswirtschaft mit ihren Umsatzzahlen im vergangenen Jahr erstmals den Umsatz des deutschen Buchmarkts überflügelt hat, zeigt nebenbei, dass Unterhaltungsmusik längst ein elementarer Bestandteil des Kulturlebens ist. Vor allem aber zeigt auch das anstehende Wochenende in Stuttgart: die Lust am Event ist so hoch wie noch nie.