Lizzie Doron erzählt in ihrem Roman „Sweet Occupation“ die Geschichte der israelisch-palästinensischen Aktivistengruppe „Combatants of Peace“.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Überall stößt man zurzeit auf Romane, die aus unverhüllten Mitschriften des Lebens entstehen. Autofiktion heißt das Genre, dessen Großmeister der norwegische Autor Karl Ove Knausgard ist. Für gewöhnlich ist der Handlungsraum das Private, das sich beim Transfer ins Öffentliche mit Spannung auflädt – oder auch nicht. Es existiert aber auch eine politische Version dieses Schreibens. Bei der israelischen Autorin Lizzie Doron treffen die autofiktionale Empfänglichkeit und die Produktivität des rohen, tatsächlichen Lebens auf denkbar vermintem Gelände aufeinander: dem des israelisch-palästinensischen Konflikts, der täglich auf beiden Seiten neue Tragödien gebiert, auch wenn es nur ein kleiner Teil davon in die internationalen Nachrichten schafft.

 

In einem Restaurant in Tel Aviv trifft die Autorin das Mitglied einer Gruppe von Aktivisten, den „Combatants for Peace“. Unter diesen „Friedenssoldaten“ finden sich ehemalige palästinensische Terroristen, die im Kampf gegen die Besatzungsmacht groß geworden sind, neben israelischen Soldaten, die zu Kriegsdienstverweigerern wurden.

Proben für das Ende aller Tragödien

Sie alle eint die Überzeugung, dass sich mit Gewalt nichts erreichen lässt, wohl aber mit dem Versuch, ihr jeweiliges Gegenüber zu verstehen. Die Perspektive durch das Zielfernrohr haben sie durch die des Erzählens ersetzt. Weil das aber die ureigene Domäne der Literatur ist, wenden sie sich an die Autorin, deren letzter Roman „Who the Fuck is Kafka“ sich bereits tief in die Kalamitäten des israelisch-palästinensischen Alltags hinein gewagt hat. Die Friedenssoldaten wollen von sich berichten, von ihren Erfahrungen und unterbreiten den Vorschlag: „Wir werden dein neues Buch.“

Und so kann man in selbigem, das den Titel „Sweet Occupation“ trägt, nun sowohl die Genese eines Romans nachlesen, wie auch jene der von Leiden, Schmerz, Verlust geschriebenen Geschichten, die das Leben in Israel prägen. Die von Suliman al-Kathib, der mit fünfzehn Jahren auf israelische Soldaten einsticht, sich später zehn Jahre lang in der Gefängnis-„Universität“ mit der Geschichte des jüdischen Volkes auseinandersetzt, Biografien von Gandhi und Che Guevara liest, davon träumt, zum Herzl der Palästinenser zu werden, sich dann aber doch für Nelson Mandela entscheidet. Oder die Geschichte von Jamil Kassas, der als jugendlicher Steinewerfer einige Berühmtheit erlangt, viele Freunde und seinen jüngeren Bruder im Widerstand gegen die Besatzer verliert, bis ihn seine von Schmerz gebeugte Mutter lehrt, dass Hass eine lebensvereitelnde Krankheit sei. Oder Chen Alon, der sich während der zweiten Intifada vom „Occupation-Praktikant“ zum „Refusenik“ wandelt, die Armee verlässt und fortan auf der Theater-Bühne für eine Zeit probt, die das Ende aller Tragödien wäre.

Die Geschichten sind da, jetzt braucht es Leser

Sie alle treten unter ihren wirklichen Namen auf. Früher Täter, jetzt Soldaten für den Frieden, kämpfen sie gewaltfrei für ein Ende der israelischen Besatzung und für einen Stopp des Siedlungsbaus. Unlängst waren sie für den Friedensnobelpreis nominiert. In die Berichte fügt die Erzählerin Rückblenden ihrer eigenen Jugend ein: ein Text der Hoffnungen und des Aufbruchs junger Israeli, den die unversöhnte Realität mit harter Hand korrigiert. Doron kehrt das alttestamentarische Motiv Auge um Auge, Zahn um Zahn um: Es folgt nicht länger einer Dynamik der Vergeltung, sondern einer gegenläufigen des Ausgleichs, in der sich die unerträglichen eigenen Leiden in denen der anderen spiegeln.

Lizzie Doron, 1953 geboren, wuchs als Kind von Holocaust-Überlebenden in Tel Aviv auf. Ihre Bücher über die Befindlichkeiten der sogenannten „Zweiten Generation“ gehören in Israel zur Schullektüre. Gleiches würde man diesem Roman wünschen. Doch findet sich in dem Land kein Verleger, der mutig genug wäre, ihn zu drucken. Wie brisant auf politischer Ebene ein Kontakt mit Gruppen wie den „Combatants of Peace“ sein kann, hat der deutsche Außenminister unlängst erfahren. Auf privater Ebene bezahlt die Autorin ihre Gesprächsbereitschaft mit dem Verlust alter Freundschaften und dem Vorwurf der Kollaboration.

Literarisch sind die Mittel, deren sich Doron bedient, überschaubar, politisch aber sind sie unabsehbar. Der Bewusstseinsprozess, den ihr Roman abbildet, birgt nichts weniger als den Schlüssel zur Lösung eines Konflikts, der ohne gegenseitiges Verständnis für immer in dem blutigem Stillstand verharren wird, dessen endloses Zeitmaß in Anschlägen gemessen wird. „Wir werden immer Geschichten haben“, sagt einer der Akteure, „jetzt brauchen wir Leser“. In jedem Leser glimmt die Hoffnung, dass die Literatur einmal die Wirklichkeit entflammen könnte. Das würde die autofiktionale Mode in ein neues Licht setzen, von dem es sich zu träumen lohnt.