Natürlich wird es künftig technische Entwicklungen – der Chip im Ball als Beispiel, der vielleicht vor ein paar Wochen Borussia Dortmund und nicht Bayern München zum Pokalsieger gemacht hätte – geben, die dazu beitragen, unübersichtliche Spielmomente klarer als bisher zu überblicken. Solche Hilfsmittel beeinträchtigen den Charakter des Spiels nicht, doch fatal für das Spielsystem Fußball wäre, wenn die Autorität der Schiedsrichterentscheidung grundsätzlich untergraben würde. Das Spiel lebt davon, dass ein einzelner Mann oder eine einzelne Frau, unterstützt von den beiden Assistenten an der Seite, unabhängige Urteile fällt, gegen die kein Widerspruch möglich ist. Ein Gang in die Revision ist beim Fußball (außer bei krassen Regelverstößen) nicht möglich, und das macht die ethisch-juristische Dimension jedes einzelnen Pfiffes aus – und auch die ohnmächtige Wut, wenn falsch entschieden wurde und wenn dieser unantastbare Irrtum klaglos hingenommen werden muss.

 

Diese Machtposition des Schiedsrichters mag als Anachronismus erscheinen und gefällt nicht jedem. Der Kulturphilosoph Klaus Theweleit zum Beispiel hat in seinem Buch „Tor zur Welt – Fußball als Realitätsmodell“ (2004) seinem Zorn über die Willkür der Pfeifenmänner freien Lauf gelassen und das durch die Befugnisse des Schiedsrichters konstituierte System des Spiels infrage gestellt: „Der Schiedsrichter und seine Assistenten als Willkürherrscher auf dem Platz sind ein schändliches Überbleibsel vergangener Herrschaftsformen. Für mich ist das ein Fall für Brüssel. Die päpstliche Rechteausstattung der Schiedsrichter widerspricht jeder europäischen Rechtsnorm.“

Theweleits Frontalangriff, der sich je nach Blickwinkel komisch oder töricht liest, verkennt, welche Folgen die Einführung einer „Kontrollinstanz“ hätte und dass das Richteramt auf dem Spielfeld mit europäischen Rechtsnormen nichts zu tun hat. Seine Attacke auf die „Terrormänner“ verkennt, dass selbst haarsträubende Fehlentscheidungen zum Ritual des Spiels gehören und die Erregung darüber eine zentrale Entlastungsfunktion ausübt, ja, indirekt zur Faszination des Spiels gehört.

Wenn der Mann in Schwarz an sich selber zweifelt

Die meisten Schiedsrichter sind sich ihrer Ausnahmerolle bewusst und leiden, wenn sie ihr Amt fehlerhaft ausüben. Sehr deutlich hat dies der französische Schiedsrichter Joël Quiniou zum Ausdruck gebracht. Quiniou, der sein Land dreimal bei Weltmeisterschaften vertrat und Berühmtheit dadurch erlangte, dass er 1986 im WM-Spiel Uruguay gegen Schottland in der ersten Minute – zu Recht – die Rote Karte zückte, stand seinem Neffen, dem Schriftsteller Christophe Donner, Rede und Antwort für dessen Buch „Mon oncle“ (1995). Quiniou beschreibt darin die existenzielle Traurigkeit, die den reflektierten Schiedsrichter befällt, sobald er während des Spiels merkt, falsch entschieden zu haben: „Manchmal bin ich sehr traurig, sagte er. Und tatsächlich sah man ihn, Joël, als wäre man selbst dabei gewesen, auf dem Rasen irgendeines riesigen Stadions stehen, inmitten dieser heulenden Menge, die er nicht mehr hört, man sah seine Einsamkeit und seine Traurigkeit in dem Augenblick, da er sich bewusst wird, einen Irrtum begangen zu haben.“Große Macht in Händen zu halten bekommt nicht allen Menschen, und so nimmt es nicht wunder, dass Schiedsrichter mitunter zur Selbstdarstellung neigen und ihr Richteramt telegen zelebrieren. Je schneller und athletischer das Spiel in den letzten Jahrzehnten geworden ist, desto seltener freilich sind in höheren Spielklassen jene Schiedsrichter anzutreffen, die sich als Primadonnen oder Diven gerieren.

Der Schiedsrichter ist an allem schuld, so einfach ist das. Er erfüllt in dieser Hinsicht eine zentrale Kompensationsfunktion. Er lenkt ab vom eigenen Unvermögen und erlaubt es den Nicht-Unparteiischen, selbstbewusst in den Spiegel zu schauen, auch wenn man am Tag zuvor drei hundertprozentige Torchancen vergeigt hat und sein Monatssalär wohltätigen Einrichtungen stiften müsste. Die Schuldzuweisung an den Schiedsrichter ist ein leicht zu durchschauendes und doch gern praktiziertes Verfahren, Unmut der anderen von sich zu weisen – in der Hoffnung, die eigene Haut zu retten. Vor diesen psychologisch simplen Verhaltensmustern ist kaum ein Spieler gefeit, auch intelligente Trainer wie Jürgen Klopp oder Christian Streich nicht und von José Mourinho ganz zu schweigen.

Fehlentscheidungen, eingegraben in die Fußball-Historie

Falsche oder vermeintlich falsche Schiedsrichter-Entscheidungen graben sich tief ins kollektive Gedächtnis und erregen die Gemüter noch Jahrzehnte später. Siebzig Jahre nach dem „Wunder von Bern“ sind die seinerzeit so deprimierten Ungarn weiterhin davon überzeugt, dass ihnen, kurz nach Helmut Rahns Siegtreffer, ein korrekter Treffer von Puskas wegen Abseits aberkannt worden sei. Unvergessen auch Tofik Bachramow, der Mann aus Riga, der anno 1966 als Linienrichter fatalerweise entschied, dass Geoff Hursts 3:2 gegen Deutschland ein richtiges Tor gewesen sei – ein grausamer Irrtum, wie alle zivilisierten Menschen (Engländer ausgenommen) wissen, und einer, der dem schnauzbärtigen Bachramow ein lebenslängliches Image als fahnenwedelnder Spielverderber einbrachte. Dass es im Sport ausgleichende Gerechtigkeit gibt, erwies sich vierundvierzig Jahre später, als es bei der WM 2010 erneut zur Paarung Deutschland gegen England kam und Schiedsrichter Larrionda in einem Akt der Wiedergutmachung den Engländern ein sonnenklares Tor nicht zuerkannte. Niederländer wiederum werden es Jack Taylor, dem Metzgermeister aus Wolverhampton, nie verzeihen, dass er im WM-Finale 1974 einen Hölzenbein-Sturz mit Elfmeter ahndete. Ganz zu schweigen von Arturo Yamasaki aus Peru, dessen Fehlpfiffe beim Jahrhundertspiel Italien gegen Deutschland 1970 Reporter Kurt Brumme die Tränen in die Augen trieben („Er sieht nichts“, „Wen er alles verwarnt, weiß ich nicht“) und sogar auf die Weltliteratur Einfluss nahmen. Der Dichter Ror Wolf beispielsweise widmete sich in einem WM-Gedicht dem unangenehmen Peruaner: „Der Catenaccio knirscht. Die Riesen wanken. / Mazzola fällt vor lauter Elend um. / Als Seeler blutet, bleibt die Pfeife stumm. / Das hat man Yamasaki zu verdanken“.

Der Schiedsrichter ist der letzte Mohikaner gelebter Ethik. Manager, Trainer und Spieler, die sich allesamt und immer von ihm betrogen fühlen, stempeln ihn zum Versager, zum Bösen schlechthin. Er ist der „Spielverderber“, der die Freude am scheinbar unschuldig ausgeübten Spiel raubt, weil er ahndet, was er sieht. An „Fingerspitzengefühl“, einer im Regelwerk nicht vorgesehenen Eigenschaft, habe es dem Mann in Schwarz (oder Grün, Gelb, Rot) gemangelt, monieren jene Furien auf Vereinsbank oder Tribüne, denen zum Sieg normalerweise jedes Mittel recht ist. „Ich hasse Schiedsrichter, ich könnte sie manchmal sogar umbringen“, hat der Alttrainer Udo Lattek dies kurz und bündig zusammengefasst.

Hundertprozentige Eindeutigkeit, das gibt es nicht

Schiedsrichter versuchen, die Regeln des Spiels umzusetzen. Sie interpretieren sie und wissen bei jedem Pfiff, dass hundertprozentige Eindeutigkeit jeder ihrer Entscheidungen nicht zu gewährleisten ist. Die meisten Einwurf- oder Abstoßpfiffe bieten keinen Deutungsspielraum, doch ganz anders sieht es aus, wenn ein Rempeln oder Stoßen im Strafraum auszulegen und wenn bei Abseitsentscheidungen zu prüfen ist, ob ein Akteur wirklich Einfluss auf das Spiel nimmt und somit strafwürdig positioniert ist. Die Abseitsregel lässt zwangsläufig eine Grauzone der subjektiven Wahrnehmung zu, und je nach Einschätzung würden unterschiedliche Schiedsrichter unterschiedlich entscheiden.

Dieses Dilemma werden auch Fernsehaufnahmen nicht beseitigen können. Seitdem die Stadien bei großen Spielen von zahllosen Kameras besetzt sind und seitdem sich im Nachhinein die Richtigkeit von Pfiffen aus mehreren Perspektiven (vermeintlich sicher) beurteilen lässt, hat der Erregungsgrad in der Beurteilung von Schiedsrichterentscheidungen zugenommen. Der Ruf nach dem umfassenden „Videobeweis“ erschallt bei jedem Fehlurteil, ohne dass über die Grenzen seines Einsatzes nachgedacht würde. Was wäre per Fernsehkamera während des Spiels zu überprüfen? Jeder Einwurf, jedes Foulspiel oder nur die fundamentalen (wer entscheidet darüber?) Abseits-, Strafstoß- oder Torentscheidungen? Und weshalb soll ein TV-Bild bei umstrittenen Strafraumstürzen Eindeutigkeit herstellen, wo selbst erfahrene Schiedsrichter solche Szenen im Nachhinein unterschiedlich interpretieren?

Anachronistische Machtposition?

Natürlich wird es künftig technische Entwicklungen – der Chip im Ball als Beispiel, der vielleicht vor ein paar Wochen Borussia Dortmund und nicht Bayern München zum Pokalsieger gemacht hätte – geben, die dazu beitragen, unübersichtliche Spielmomente klarer als bisher zu überblicken. Solche Hilfsmittel beeinträchtigen den Charakter des Spiels nicht, doch fatal für das Spielsystem Fußball wäre, wenn die Autorität der Schiedsrichterentscheidung grundsätzlich untergraben würde. Das Spiel lebt davon, dass ein einzelner Mann oder eine einzelne Frau, unterstützt von den beiden Assistenten an der Seite, unabhängige Urteile fällt, gegen die kein Widerspruch möglich ist. Ein Gang in die Revision ist beim Fußball (außer bei krassen Regelverstößen) nicht möglich, und das macht die ethisch-juristische Dimension jedes einzelnen Pfiffes aus – und auch die ohnmächtige Wut, wenn falsch entschieden wurde und wenn dieser unantastbare Irrtum klaglos hingenommen werden muss.

Diese Machtposition des Schiedsrichters mag als Anachronismus erscheinen und gefällt nicht jedem. Der Kulturphilosoph Klaus Theweleit zum Beispiel hat in seinem Buch „Tor zur Welt – Fußball als Realitätsmodell“ (2004) seinem Zorn über die Willkür der Pfeifenmänner freien Lauf gelassen und das durch die Befugnisse des Schiedsrichters konstituierte System des Spiels infrage gestellt: „Der Schiedsrichter und seine Assistenten als Willkürherrscher auf dem Platz sind ein schändliches Überbleibsel vergangener Herrschaftsformen. Für mich ist das ein Fall für Brüssel. Die päpstliche Rechteausstattung der Schiedsrichter widerspricht jeder europäischen Rechtsnorm.“

Theweleits Frontalangriff, der sich je nach Blickwinkel komisch oder töricht liest, verkennt, welche Folgen die Einführung einer „Kontrollinstanz“ hätte und dass das Richteramt auf dem Spielfeld mit europäischen Rechtsnormen nichts zu tun hat. Seine Attacke auf die „Terrormänner“ verkennt, dass selbst haarsträubende Fehlentscheidungen zum Ritual des Spiels gehören und die Erregung darüber eine zentrale Entlastungsfunktion ausübt, ja, indirekt zur Faszination des Spiels gehört.

Wenn der Mann in Schwarz an sich selber zweifelt

Die meisten Schiedsrichter sind sich ihrer Ausnahmerolle bewusst und leiden, wenn sie ihr Amt fehlerhaft ausüben. Sehr deutlich hat dies der französische Schiedsrichter Joël Quiniou zum Ausdruck gebracht. Quiniou, der sein Land dreimal bei Weltmeisterschaften vertrat und Berühmtheit dadurch erlangte, dass er 1986 im WM-Spiel Uruguay gegen Schottland in der ersten Minute – zu Recht – die Rote Karte zückte, stand seinem Neffen, dem Schriftsteller Christophe Donner, Rede und Antwort für dessen Buch „Mon oncle“ (1995). Quiniou beschreibt darin die existenzielle Traurigkeit, die den reflektierten Schiedsrichter befällt, sobald er während des Spiels merkt, falsch entschieden zu haben: „Manchmal bin ich sehr traurig, sagte er. Und tatsächlich sah man ihn, Joël, als wäre man selbst dabei gewesen, auf dem Rasen irgendeines riesigen Stadions stehen, inmitten dieser heulenden Menge, die er nicht mehr hört, man sah seine Einsamkeit und seine Traurigkeit in dem Augenblick, da er sich bewusst wird, einen Irrtum begangen zu haben.“Große Macht in Händen zu halten bekommt nicht allen Menschen, und so nimmt es nicht wunder, dass Schiedsrichter mitunter zur Selbstdarstellung neigen und ihr Richteramt telegen zelebrieren. Je schneller und athletischer das Spiel in den letzten Jahrzehnten geworden ist, desto seltener freilich sind in höheren Spielklassen jene Schiedsrichter anzutreffen, die sich als Primadonnen oder Diven gerieren.

Faszinierende Außenseiter

Figuren wie Walter Eschweiler, der seinen WM-Einsatz 1982 mit einem unfreiwilligen Purzelbaum krönte, Wolf-Dieter Ahlenfelder (der offenkundig alkoholisiert Bundesligaspieler schon mal nach dreißig Minuten in die Halbzeitkabinen bat) oder der Elsässer Robert Wurtz, der sich gerne in Bodennähe begab, um im Strafraumgetümmel den Überblick zu wahren, sind Relikte aus einer Zeit, als das Bundesliga- und Europacupgeschehen noch Raum für schiedsrichterliche Extravaganzen gewährte. An manchen Vertreter dieser Zunft denkt man während der WM-Wochen durchaus mit Wehmut zurück, an den 1,68 Meter großen Stuttgarter Schneidermeister Rudolf Kreitlein etwa, der 1966 den raubeinigen, 1,91 Meter großen Argentinier Rattin vom Platz stellte und ihm dies dann minutenlang verständlich zu machen versuchte. Die schwäbisch-argentinischen Kommunikationsprobleme zogen kurz darauf die Einführung der Gelben und Roten Karte nach sich. Unvergessen Kreitleins melancholisch verlorener Blick mit halb geöffnetem Blouson, als ihn englische Polizisten in die Kabine geleiteten.

Erinnerung an die verlorene Unschuld des Spiels

Der Schiedsrichter ist im zum Kommerz gewordenen Spiel ein Relikt aus alten Tagen. Und daher rührt seine Faszination: Selbst wenn seine Leistungen in den höheren Spielklassen inzwischen angemessen vergütet werden, bleibt er ein Außenseiter, dessen anachronistisches Wirken daran erinnert, dass das Spiel seinen ursprünglichen Charakter längst verloren hat. Das „interesselose Wohlgefallen“ (Immanuel Kant) gilt in den großen Stadien nur bedingt, und der unerschrockene zwölfte Mann mahnt uns an das verlorene Paradies. Und manchmal tut er dies, trotz allen Anfeindungen, auch noch gern: „Pfeifen begeistert und macht mich glücklich“, ließ der frühere Fifa-Schiri Hans-Joachim Weyland verlauten.

Wer so wahrhaftig und freudig sein Richteramt ausübt und sich nicht darum schert, als „Sündenbock“ und „Spielverderber“ verfemt zu werden, verdient Hochachtung, zumindest neunzig Minuten lang. Ohne ihn wäre der Fußball nicht denkbar – auch wenn ein Rekordnationalspieler wie Lothar Matthäus dies nicht sofort erfasste, als er einst nach seinen Zukunftsplänen befragt wurde: „Schiedsrichter kommt für mich nicht infrage, schon eher etwas, das mit Fußball zu tun hat.“