Eine fest zementierte deutsche Stammelf? Gibt es bei der WM 2018 in Russland nicht. Weshalb der nächste Weltmeister um seinen Platz in der Startelf bangen muss. Wobei Joachim Löw weiß: Abschreiben sollte man Thomas Müller nicht zu früh.

Sport: Marco Seliger (sem)

Moskau/Kasan - Jetzt ist es also schon so weit gekommen, dass über Thomas Müller diskutiert wird. Müller, der WM-Torjäger. Müller, der Unantastbare. Müller, der Raumdeuter. Müller, der Ersatzmann? Draußen? Auf der Bank? Gut, vielleicht mal auf der Parkbank vor dem Teamhotel in Watutinki. Oder nach dem Spiel für den ersten Schluck aus der Wasserflasche – aber ja wohl nicht während einer WM-Partie!

 

Doch! Genau darum geht es vor dem für den Achtelfinaleinzug entscheidenden Gruppenspiel der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Russland.

Vor eben diesem Spiel an diesem Mittwoch (16 Uhr/ZDF) in Kasan ist so einiges aus den Fugen geraten beim Weltmeister, der nach der Niederlage gegen Mexiko (0:1) und dem knappen Sieg über Schweden (2:1) alles andere als grundsolide dasteht. Und dessen einst tragende Säulen zuletzt schwächen offenbarten. Thomas Müller ist einer davon – weshalb nun eben darüber diskutiert wird, ob er in der Partie gegen die Südkoreaner überhaupt in der Startelf stehen soll. In der Stammelf hätte man früher gesagt. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Löw lobt Müller: „Absolut wichtiger Spieler“

Fakt ist: Es gibt sie nicht mehr, diese klassische erste Elf. Und es würde nun durchaus ins Bild des bisherigen Turnierverlaufs passen, wenn Joachim Löw, der Bundestrainer, jetzt auch noch Müller draußen ließe. Allein von der aktuellen Form her und mit Blick auf die vergangenen Wochen wäre das zu rechtfertigen, denn oft schien es, als ob der WM-Müller seinen Doppelgänger geschickt habe. Den nach seiner Topform suchenden Doppelgänger. In den ersten beiden Partien gehörte der Star des FC Bayern jedenfalls zu den Schwächsten im deutschen Team.

Andererseits: Ist Müller immer noch Müller. „Er ist für uns ein absolut wichtiger Spieler“, sagte Löw am Dienstag in Kasan und ergänzte: „Wer Thomas kennt, der weiß, dass er auch nach einem, nach zwei schlechten Spielen positiv nach vorne sieht und sich immer verbessern will.“ Das impliziert, dass er jederzeit aus dem Nichts explodieren kann, die richtigen Räume findet und von dort in bewährter Manier trifft. Auf diese Wende hofft auch der Bundestrainer – weshalb auch einiges dafür spricht, dass Müller noch einmal ran darf.

Der Münchner ist so etwas wie ein Sinnbild dessen, was sich gerade tut innerhalb des deutschen Kaders. Alles ist plötzlich offen, nichts ist mehr sicher – was Löw bisher eindrucksvoll belegt hat. 18 Spieler hat der Coach in Russland bereits ein-, etablierte Stammkräfte wie Mesut Özil und Sami Khedira auf die Bank gesetzt. Zieht man die beiden Ersatzkeeper ab, bleiben in Leon Goretzka, Niklas Süle und Matthias Ginter gerade noch drei Feldspieler, die bisher noch nicht zum Zug kamen. Doch das kann sich ja schnell ändern. Goretzka und Süle sind nah dran an der Startelf, Ginter ist immer eine Defensivoption.

Bereits 18 Spieler eingesetzt

Ganz anders also sieht diese Struktur im Kader aus als noch vor vier Jahren beim Titelgewinn in Brasilien, als die Einwechslung des Dortmunders Erik Durm ungefähr so wahrscheinlich war wie eine Strandbar in Rio ohne ausreichenden Caipirinha-Vorrat. 2014 änderte Löw seine Startelf erstmals im dritten Spiel.

2018 wird jeder gebraucht, und fast keiner kann sich seines Platzes sicher sein. Das zeigt einerseits die Fülle an guten Profis im deutschen Kader. Andererseits zeigt das Fehlen einer Stammelf aber auch, dass der Weltmeister in diesem Turnier nach wie vor noch auf der Suche nach sich selbst ist.

Dabei schien die Startelf noch wenige Wochen vor dem WM-Start klar zu sein. Manuel Neuer im Tor, davor Joshua Kimmich, Jérôme Boateng, Mats Hummels und Jonas Hector. Toni Kroos und Sami Khedira in der Zentrale, davor Thomas Müller, Mesut Özil und Julian Draxler (alternativ Marco Reus). Ganz vorne drin: Timo Werner. Bis auf den erkrankten Jonas Hector stand dieses Team zum WM-Start auch auf Platz. Aber dann kam dieser völlig missratene Auftritt gegen Mexiko, Stars wie Khedira und Özil spielten schwach, Hummels verletzte sich – Löw sah sich genötigt, entgegen seiner Gewohnheit schon im zweiten Spiel munter durchzuwechseln. Es profitierten – neben Marco Reus – auch jene Profis, die 2017 den Confed-Cup gewonnen haben: zum Beispiel an Sebastian Rudy und Antonio Rüdiger.

Stürmt Gomez von Beginn an?

Manches wurde besser, vor allem das Ergebnis passte, weshalb nun das Gruppenfinale gegen Südkorea ansteht – für das Joachim Löw erneut umbauen muss. Jérôme Boateng ist gesperrt, Mats Hummels wieder fit, zudem ist denkbar, dass statt Sebastian Rudy (Nasenbeinbruch) wieder Sami Khedira ins Team rückt. Selbst Mesut Özil, der virtuose Spielmacher auf der Suche nach sich selbst, ist wieder ein Thema. Obendrein drängen sich weitere Fragen auf.

Braucht es die Wucht von Mario Gomez von Anfang an? Bekommt Antonio Rüdiger nach schwacher Leistung gegen Schweden noch eine Chance? Wird er in der Abwehrzentrale von Niklas Süle verdrängt? Es ist ein schmaler Grat, auf dem Joachim Löw in seiner Entscheidungsfindung wandelt. Einerseits hat er einen Fundus an Spielern, die er ohne Zweifel jederzeit in die erste Elf beordern kann, damit bleibt er auch schwer ausrechenbar für seine Gegner. Anderseits, so heißt es ja, sollte sich eine Mannschaft während eines Turniers ja auch finden.

Es hängt vom Ausgang der Partie gegen Südkorea und später von der Bilanz dieses Turniers ab, wie all das später gedeutet wird: Als starke Vielfalt und große Breite im Kader. Oder eben als erfolglose Suche nach der richtigen Aufstellung. Top oder Flop – noch ist beides möglich. Übrigens auch für Thomas Müller.