In Brasilien verzichtet der Bundestrainer Joachim Löw auf eine taktische Option: Ohne Mario Gomez wird es eng, wenn im WM-Verlauf ein echter Strafraumstürmer gebraucht wird. Eine Analyse von StZ-Sportchef Peter Stolterfoht.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Joachim Löw bewegt – zwischen Konsequenz auf der einen Seite und Sturheit auf der anderen. Mit der Nominierung seines vorläufigen WM-Kaders scheint der Bundestrainer nun einen Schritt zu weit gegangen zu sein.

 

Mit nur einem echten Stürmer schickt Löw die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in das Turnier. Und dabei handelt es sich um den 35 Jahre alten zuletzt häufig verletzten Miroslav Klose. Sollte der in Brasilien ausfallen, steht Löw tatsächlich kein Strafraumangreifer zur Verfügung. Eine taktisch wichtige Option derart zu vernachlässigen, ist ein riskantes Spiel. Ist es doch denkbar, dass die deutsche Mannschaft in einem Spiel das Stilmittel der hohen Flanke und des Kopfballs dringend braucht – zum Beispiel in einem K.-o.-Rundenspiel gegen ein kleines, lauffreudiges Team, gegen Japan oder Südkorea.

Das soll nicht heißen, dass der Bundestrainer von seiner schnellen, flachpassgeprägten Spielweise abrücken soll. Er sollte sich jedoch alle Möglichkeiten für den Notfall offen halten. Aber das tut er nicht.

Es stellt sich auch die Frage, was einen Trainer auszeichnet

Was hätte dagegen gesprochen, im vorläufigen 30 Mann starken Kader auf – sagen wir einmal – Erik Durm und Shkodran Mustafi – zu verzichten und stattdessen Mario Gomez und Stefan Kießling zu nominieren. Wer von diesen beiden erprobten Angreifern in der Vorbereitung den besseren Eindruck macht, fährt mit. So einfach wäre das gewesen.

Joachim Löw geht einen anderen Weg, und der kommt einem mittlerweile spanischer vor als der des Weltmeisters. Spaniens Ballbesitz-Fetischismus hat unter Vincente del Bosque jedenfalls Grenzen. Dieser Trainer beruft neben den Angreifern Fernando Torres, Diego Costa und David Villa womöglich auch Fernando Llorente von Juventus Turin in seinen WM- Kader – ein Angreifer der Marke Brecher.

In der Diskussion um Joachim Löws Nominierung stellt sich irgendwann auch die Frage, was einen Trainer auszeichnet. Muss er von seiner Spielidee so überzeugt sein, dass er dieser Philosophie immer alles unterordnet, oder muss er flexibel sein und sich einer Situation taktisch anpassen können? Eine Antwort könnte das Halbfinale in der Champions League zwischen dem FC Bayern und Real Madrid gegeben haben. Münchens Pep Guardiola hielt in beiden Spielen streng an seinem optisch dominanten Stil fest, was dann aussah wie ein Handballspiel am gegnerischen Kreis. Madrids Carlo Ancelotti dagegen formte sein Team bereits im Hinspiel zuhause zu einer lauernden Kontermannschaft um. Das Ergebnis: 1:0 und 4:0 für Real.

Manchmal helfen hohe Bälle in den Strafraum

Die deutsche Nationalmanschaft ist auch in der Lage, ganz schnell nach vorne zu spielen. Profis wie Marco Reus, André Schürrle, Thomas Müller, Mesut Özil und Mario Götze sind dank ihrer läuferischen und gedanklichen Schnelligkeit geradezu prädestiniert dafür. Aber es wird bei dieser WM deutsche Gegner geben, die sich nicht herauslocken lassen und gegen die dieses Mittel deshalb nicht geeignet erscheint.

Auch wenn es Joachim Löw ein Graus ist, manchmal helfen hohe Bälle in den Strafraum. Dort sollte dann aber auch jemand stehen, der damit etwas anfangen kann – in einem Nationalteam mit einer ausgeprägten Mittelstürmertradition. Davon ist unter Löw einer übrig geblieben.