Der Württembergische Kunstverein entdeckt die Künstlerin Lorenza Böttner, die ihre körperliche Behinderung ebenso offensiv zum Thema gemacht hat wie ihre Transsexualität.

Stuttgart - Das vielleicht beste Argument gegen die Vorstellung von klassischer Perfektion liefert die Klassik selbst. Ungeachtet ihrer abgeschlagenen Arme gilt die unter dem Namen „Venus von Milo“ bekannt gewordene Statue aus dem Pariser Louvre heute als höchster Ausdruck des antiken Körperideals. Und von all den Rollen, die sich Lorenza Böttner nach Vorlagen aus der Kunstgeschichte angeeignet hat, ist die der altgriechischen Marmorgöttin gewiss die aufschlussreichste. Mitten in den neokonservativen westdeutschen achtziger Jahren inszenierte sich da eine körperlich behinderte Transsexuelle als wiedergeborene Venus. Die Performance und das zugehörige Gemälde sind starke, ästhetische Bildgesten, in denen Böttner ihren Identitätswechsel zugleich verhüllte und provokant offenbarte. Im Alter von acht Jahren hatte die 1959 unter dem Namen Ernst Lorenz Böttner geborene Deutschchilenin bei einem Unfall beide Arme verloren. Doch schon ein Jahr zuvor, erinnert sich die Mutter, habe ihr Sohn zum ersten Mal den Wunsch geäußert, eine Frau zu sein.

 

Bekannt wurde Lorenza Böttner 1992. Da schlüpfte sie, dank ihres tänzerischen Könnens, bei der Eröffnung der Paralympics in die Rolle des Maskottchens Petra. Nach ihrem frühen Tod zwei Jahre später geriet ihr eigenwilliges Schaffen in Vergessenheit, bis es im vorletzten Jahr in kleiner Auswahl auf der Documenta wiederentdeckt wurde. Die kuratorische Betreuung übernahm damals der spanische Transgender-Aktivist Paul B. Preciado. Für den Württembergischen Kunstverein (WKV) in Stuttgart hat der Philosoph jetzt auch die erste umfassende Retrospektive von Lorenza Böttner organisiert (bis 5. Mai).

Mit mundgemaltem Kitsch hat ihre Kunst nichts zu tun

„Requiem für die Norm“ überschreibt sich die Auswahl von rund zweihundert Zeichnungen, Gemälden, Fotos und Videos. Denn Böttners Lebensthema war es, das eigene Ich gegen alle gesellschaftlichen und moralischen Erwartungen zu behaupten. Dazu gehörte auch die bewusst getroffene Entscheidung, keine Prothesen zu tragen. Früh hat Böttner sich gegen eine Medizin und eine Pädagogik gestemmt, die sie in Spezialeinrichtungen abschieben wollten. Für sie kam nur die Akademie in Frage. Dort fand sie zu einer Kunst, die nichts mit dem mundgemalten Kitsch zu tun hat, der unter dem Label der „Kunst von Behinderten“ zirkuliert. Böttners Hauptinteresse galt dem Selbstporträt, einem Genre, das in den einschlägigen Sozialwerkstätten kaum gepflegt wird.

Lauter Körperträume, Maskeraden zwischen Museum und Popkultur, bedecken die Wände im Vierecksaal des WKV. Als Cyborg mit martialischen Prothesen imaginiert Böttner sich ebenso selbstverständlich wie als aufreizende Verführerin, als Ikarus oder als Christus der Pieta. Dabei sind die Travestien stets doppelter Natur: Böttner verwandelt einerseits die eigene Person, andererseits Stereotype der visuellen Kultur. Deren Motive werden unter den Bedingungen von Invalidität und Transsexualität neu gefasst. Noch auf der Kunsthochschule Kassel entstand ein feurig buntes Riesenselbstbildnis, bei dem Fußabdrücke ähnlich wie impressionistische Pinselstriche funktionieren.

Unverhüllt erotische Blicke

Unentwegt wechseln die Metamorphosen den Anspielungshorizont. Und die geschlechtlichen Attribute. Vollbart und Männerkleidung hier, rauschende Ballkleider, Federboa, Pumps oder Damenstiefel dort. Weil Böttner immer jemand anders ist, erscheint das Anderssein plötzlich als Normalität.

Offensiv bricht sie zudem mit der entmündigenden Vorstellung, Menschen mit Behinderung seien asexuelle Sorgenkinder. Unverschämt erotisch, als wollten sie zum Liebesspiel einladen, werfen Böttners hüllenlose Selbstporträts provokante Blicke über die armlose Schulter. Auch zu ihren Tanzperformances gehörte stets eine sexuelle Konnotation. Insbesondere aber weiß die Künstlerin viel und gewinnend zu lachen. So überwindet sie radikaler als je zuvor eine überlieferte Bildpraxis, die körperliche Einschränkungen mit Aspekten von Leid oder Mitleid verknüpft. Preciado hat Recht, wenn er Böttners Oeuvre als „Manifest des Lebens“ bezeichnet.

Es ist eine denkwürdige, weil selten sinnliche Ausstellung geworden – in einer Institution wie dem WKV, der sonst eher für Kopflastiges bekannt ist. Zwar verzichten die Begleittexte auch diesmal nicht darauf, an die disziplinarischen Kräfte zu erinnern, mit denen der „heterosexuelle Kapitalismus“ in unsere Körper eingreift, doch ist das fast überflüssig. Ein Bild wie der Männerakt, dessen Genitalien hinter Stacheldraht verborgen sind, sagt mehr als tausend Foucault-Zitate. Die Schau funktioniert nicht zuletzt deswegen so gut, weil Böttner mit Mund und Fuß höchste technische Qualität erreichte. Auch dadurch verschafft sich dieses Lebenswerk posthum den überfälligen Respekt.