Lost Place Stuttgart Die Villa Dillmann verwildert

Villa Dillmann: ein Prachtbau, der schon lange leer steht. Foto: cf/sto

Die Villa Dillmann ist ein verlassener Ort mit großer Geschichte. Es ist der Geburtsort der Volkshochschule und der Reformierung des Gymnasiums. Außerdem regte sich dort Widerstand gegen den NS-Staat.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau: Peter Stolterfoht (sto)

Der Hölderlinplatz gehört zu diesen ruhelosen Stuttgarter Orten, an denen die Wege von Fußgängern, Fahrradfahren, Autos, Bussen und Stadtbahnen kreuzen. Zu dieser Choreografie des Westens gehören auch Läden, Cafés und Restaurants, die ihre Geschäfte im Sommer nach außen verlagern. Und so ist es sehr überraschend, dass nur wenige Meter entfernt von diesem großstädtischen Trubel eine komplett andere Atmosphäre herrscht. Zurückgezogen auf einem Grundstück zwischen Hölderlin- und Dillmannstraße, thront eine prachtvolle Landhausvilla im italienischen Stil mit beige-roter Klinkerfassade und einem kleinen Brunnen davor.

 

Eine solche Villa würde man eher an einem Hang oberhalb des Comers Sees verorten als tief im Stuttgarter Westen. Zum Gebäude gelangt man über eine Auffahrt die durch eine kleine Parkanlage mit alten Kastanienbäumen führt. Wer wohl so idyllisch abgeschirmt lebt, oder auch arbeitet? Die Antwort fällt ernüchternd aus. Niemand. Und das nunmehr schon seit acht Jahren.

Die unteren Fenster des zwei und zum Teil dreigeschossigen Hauses sind von innen mit Plastikplanen zugehängt, dahinter herrscht die große Leere, alles ausgeräumt. Eine architektonische Perle Stuttgarts als Lost Place, als ein verlassener Ort, der bei näherer Betrachtung nicht so aussieht, als würde sich daran in nächster Zeit etwas ändern.

Der Leerstand als Dauerzustand

Vor einem Rätsel steht auch das Esslinger Planungsbüro Curatherm, das 2020 den Auftrag erhalten hatte, einen Umbau zu steuern. „Der Bauherr hatte für die Villa medizinische Praxisräume vorgesehen und einen Anbau mit Wohnungen“, heißt es von Seiten der Planer, „wir haben aber schon seit Monaten nichts mehr von ihm gehört.“ Dies nennt Bernhard Mellert, der Bezirksvorsteher in Stuttgart-West (Grüne), einen „Zustand, der natürlich unbefriedigend ist“.

Die Geschichte der Villa beginnt im Jahr 1884. Der erfolgreiche Stuttgarter Konditor Wilhelm Murschel, der ein Spezialitätengeschäft an der Königstraße führt und über seinem Laden wohnt, beauftragt das Architekturbüro Eisenlohr und Weigle mit dem Hausbau in damals noch völlig freier Lage. Es soll Murschels Alterssitz werden. Ob er dort aber jemals gewohnt hat, ist fraglich. 1885 ist das Jahr der Fertigstellung, aber gleichzeitig auch das des Todes von Wilhelm Murschel. Dessen Erben vermieteten das Gebäude zunächst und verkauften es 1890 an den Pädagogen Christian von Dillmann. So wird die Murschel-Villa zur Dillmann-Villa, wie sie auch heute noch genannt wird.

Christian von Dillmann reformierte das württembergische Schulwesen, in dem er eine naturwissenschaftliche Alternative zu den altsprachlichen Gymnasien entwickelte, die damals den Namen Real-Gymnasien bekamen. Den trugen sie, weil sie sich an der Realität orientieren sollten. Dillmann wurde Rektor der nach ihm benannten Schule.

Die Dillmann-Villa, die zur Hölderlinstraße hin mittlerweile von einem Wohnkomplex abgeriegelt wird, bewohnte nach dem Tod von Christian von Dillmann seine Witwe Luise. Nach dem Ersten Weltkrieg kauft Robert Bosch das Landhaus für seinen Freund Theodor Bäuerle. Der berühmte Unternehmer selbst lebte weiter in der Heidehofstraße, wo heute die Robert-Bosch-Stiftung ihren Sitz hat.

Wo pädagogische Träume wahr werden

Bäuerle, ebenfalls Pädagoge, zog mit seiner Frau und vier Kindern in den sich nun dichter besiedelnden Stuttgarter Westen, um in diesem Gebäude seinen Traum von der Erwachsen- und Volksbildung weiter zu entwickeln. So entstand dort 1919 auch die erste Geschäftsstelle der Volkshochschule, deren Deutschland-Präsident er wurde.

In der NS-Diktatur ist die Villa Dillmann zu einem Ort für Andersdenkende geworden. Mit dem Tod seines Schutzpatrons Robert Bosch 1942 wird es zunehmend gefährlicher für Theodor Bäuerle. Der Kontakt zum Widerstandskreis um Carl Friedrich Goerdeler hatte nach dem gescheiterten Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 seine Verhaftung zur Folge, im Hotel Silber wurde er 12 Tage lang inhaftiert und immer wieder verhört. Nach dem Krieg gehörte Bäuerle als Parteiloser der Landesregierung von Reinhold Maier als Minister für Kultus und Unterricht an.

Bis zum Umzug 1992 in den Treffpunkt Rotebühlplatz hatte die Volkshochschule ihren Sitz in der Villa Dillmann. Zuletzt wurden die Räume von der Robert Bosch GmbH an eine Physiotherapie-Praxis vermietet. 2014 sah die Firma Bosch keinen Verwendungszweck mehr für das Gebäude und verkaufte es in der Folge an die Hölderlin 54 Verwaltungs-GmbH & Co. Seitdem steht dieses ganz besondere Stuttgarter Haus leer.

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