Vor einem Jahr sind bei der Love-Parade 21 Menschen gestorben. Viele der einst fröhlichen Raver finden nicht in den Alltag zurück.  

Duisburg - Der Tunnel will nicht enden. 250 Meter zieht er sich hin, flach und nur schwach beleuchtet. Ab und zu rauscht ein Auto vorbei. Von den Betonwänden an den Seiten heben sich die weiß gesprühten Umrisse von tanzenden Körpern ab. Bei jedem Schritt zwingen sie die Erinnerung ins Bewusstsein. Wie Tausende hier drin schieben und drängen, ein Knäuel aus verschwitzter, nackter Haut und bunten T-Shirts, das sich langsam durch die Röhre walzt. Vor einem Jahr war dieser Tunnel auf der Duisburger Karl-Lehr-Straße der Zugang zur Love-Parade, die einst stolzeste Jugendparty der Welt. Die Bilder sind alle noch im Kopf.

 

Endlich wird es wieder hell - Licht, Luft. Innehalten, nur einen kurzen Augenblick. Das Schlimmste kommt jetzt erst. Am Ende des Tunnels, an der Mauer, erhebt sich die Treppe. Sie ist lächerlich schmal, und doch schien sie am 24. Juli 2010 so vielen als der einzige Fluchtweg aus dem Stau auf der Rampe, die zum Festgelände und den Musikwagen hinaufführte.

Ihre Oberkörper wurden gequetscht, so dass ihnen die Luft wegblieb

21 Menschen haben diesen Tag nicht überlebt. Sie wurden von den Massen, die von allen Seiten Richtung Treppe strömten, zu Boden gerissen und niedergetrampelt. Ihre Oberkörper wurden gequetscht, so dass ihnen die Luft wegblieb.

Jemand hat ein Schild aufgehängt: "Duisburger Schande." Auf den Treppenstufen stehen 21 Holzkreuze. Sie tragen die Namen der jungen Frauen und Männer, die nur Spaß haben wollten. Stattdessen hat die Love-Parade ihnen das Leben genommen. Anderen nahm sie das Lebensglück. 500 Menschen wurden verletzt, und viele von ihnen leiden bis heute unter den Folgen.

Keiner der Akteure hat eine Erklärung

Detlev Keye war mit seiner Freundin Kerstin Mückshoff und ihrer 15-jährigen Tochter Mandy an der Treppe, als das Gedränge immer dichter, die Enge immer unerträglicher wurde. Sie hörten Schreie und spürten, wie Ellenbogen sie rammten. "Unsere Klamotten wurden zerrissen, die Schuhe haben wir verloren", erzählt Detlev Keye (45). Sie wurden von einer Wellenbewegung mitgerissen, gegen die man keine Chance hat. Todesangst überkam sie und der Gedanke: "Es ist vorbei." Kerstin Mückshoff wurde ohnmächtig und stürzte. Detlev Keye fiel auf sie. Aber irgendwie - sie wissen es nicht genau - kamen die beiden da lebend wieder raus so wie ihre Tochter. "Wir waren heilfroh", sagt Detlev Keye. "Wir dachten, das ist wie ein Sechser im Lotto." Damals ahnte er noch nicht, dass das Leben nach dem 24. Juli nicht mehr so sein würde wie vorher.

Als vor einem Jahr am frühen Abend die Nachricht von der Katastrophe um die Welt ging, kamen sofort Fragen auf, die bis heute nicht beantwortet sind. Wie kommt man auf die Idee, eine Love-Parade, die angeblich eine Million Besucher anlockt, an diesem völlig unpassenden Ort stattfinden zu lassen? Auf einem eingezäunten Gelände? Mit einem einzigen Ein- und Ausgang? Einem Tunnel ohne Fluchtweg? Wie kann das passieren, ausgerechnet im Tüv-geprüften, DIN-genormten Deutschland? Keiner der Akteure hat eine Erklärung: nicht der Veranstalter Lopavent mit seinem Chef Rainer Schaller, nicht die Stadt mit ihrem Oberbürgermeister Adolf Sauerland, nicht die Polizei. Alle haben alles richtig gemacht. Mit immer neuen Gutachten be- und entlasten sie sich gegenseitig.

Der Fleischermeister kann nicht mehr schlafen, nicht mehr klar denken

Detlev Keyes körperliche Verletzungen, die Schürfwunden und Prellungen, sind bald verheilt. Doch dann beginnen die Albträume, die Schweißausbrüche. Der Fleischermeister kann nicht mehr schlafen, nicht mehr klar denken. Er ist am Ende. Der Arzt schreibt ihn krank. Keye macht eine Therapie, dann eine Reha, doch es reicht nicht. Die Wiedereingliederungsmaßnahme in den Job scheitert, weil er sich nicht länger als drei Stunden konzentrieren kann. Sein Chef bricht sie ab. Nicht einmal seine Leidenschaft kann Keye mehr leben: "Früher war ich bei jedem Heimspiel des MSV im Stadion", sagt er verbittert. Seit der Love-Parade fehlt ihm dazu die Kraft. "Ich kann die vielen Menschen und den Lärm nicht mehr ertragen." Zwei-, dreimal im Monat fährt Detlev Keye mit seiner Freundin zum Tunnel. Dann zünden sie eine Kerze an, für die Toten, aber auch für all die anderen. "Heute kommt mir das alles viel kleiner vor als an diesem Tag", sagt er. "Damals waren überall Menschen. Wie konnte ich da nur hingehen?"

Der 24. Juli 2010 hat auch das Leben von Jürgen Hagemann und seiner Familie verändert. Seine 16-jährige Tochter Virginia wird im Pulk nach unten gedrückt und verletzt. Sie kann kaum noch atmen, doch sie überlebt. Schmutzig, mit zerrissenen Sachen und mit Quetschungen an den Beinen kommt sie ins Krankenhaus. Sie sitzt einige Tage im Rollstuhl, aber da die äußerlichen Wunden schnell heilen, wird sie schon nach einer Woche auf Krücken entlassen. Ihr Vater denkt weiter. Was, wenn Schäden zurückbleiben? Was ist mit Schmerzensgeld? Mit Entschädigungen? "Mir war bald klar, dass die Opfer nur eine Chance haben, ihre Ansprüche durchzusetzen, wenn sie sich zusammenschließen", sagt Jürgen Hagemann. Er richtet eine Internetseite ein, um andere Betroffene zu finden. 15 melden sich, bald 20, und zum ersten Treffen kommen etwa 50 Hinterbliebene, Überlebende und Angehörige. Inzwischen haben sich in dem Verein "Massenpanik Selbsthilfe" 100Menschen vernetzt. Die Stadt und die Axa-Versicherung haben gerade begonnen, den Opfern vorzeitige Entschädigungen zu zahlen.

Auch Tage nach der Katastrophe übernimmt keiner der Beteiligten Verantwortung

Doch der Verein hat nicht allein das Ziel, um Schmerzensgeld zu kämpfen. Es geht auch um den Kontakt zu Notfallseelsorgern und um das Gedenken. Jürgen Hagemann saß zusammen mit anderen Angehörigen in der Jury, die den Entwurf des Künstlers Gerhard Losemann zum Mahnmal gewählt hat: eine tonnenschwere Stahlplatte, auf deren Rückseite 21 Vierkante wie riesige Mikadostäbe übereinander fallen - es symbolisiert das Stürzen und panische Emporstreben an der Treppe.

Auch Tage nach der Katastrophe übernimmt keiner der Beteiligten Verantwortung. Sauerland will die Sache aussitzen und flüchtet sich in den kommunalpolitischen Alltag. Schaller verspricht lückenlose Aufklärung, verschwindet aber aus der Öffentlichkeit. Es scheint klar, dass alle Seiten eine Mitschuld tragen. Der Veranstalter, der ein groteskes Sicherheitskonzept entwickelt hat. Die Stadt, die das Ganze genehmigt hat, weil sie mit der Love-Parade endlich einmal cool sein wollte. Und die Polizei, die im Chaos offenbar nicht einmal einsatzfähige Funkgeräte hatte. Nun schiebt man sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Wer wann welchen Fehler gemacht hat, das muss die Staatsanwaltschaft klären. Sie ermittelt nach wie vor wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung gegen 16 Personen, darunter elf städtische Mitarbeiter, vier von der Firma Lopavent sowie ein leitender Polizeibeamter. Dass die Ermittlungen auch auf Sauerland und Schaller ausgeweitet werden, schließt der Duisburger Oberstaatsanwalt Rolf Haferkamp nicht aus.

Erst jetzt trägt Sauerland eine Entschuldigung vor

Wenn es um Schaller oder Sauerland geht, bleibt Jürgen Hagemann ganz ruhig. "Das sind keine Mörder", sagt er beim Frühstück in einem Duisburger Café. "Aber die Krankenhäuser der Stadt waren voll. Warum kam keiner und brachte wenigstens Blumen? Mit einem Schuldeingeständnis hat das nichts zu tun, sondern mit Anteilnahme und Anstand." Jürgen Hagemann spricht diesen Satz im Namen vieler Betroffener. Stefanie Mogendorf, die Mutter des getöteten 21-jährigen Eike, erzählte im "SZ-Magazin", dass sich weder die Stadt noch der Veranstalter bei der Familie gemeldet hätten, nur das Krankenhaus, in dem Eike starb. Es verlangte zehn Euro Praxisgebühr. Für die Behandlung ihres Sohnes von 18.10 Uhr bis 18.23 Uhr.

Jetzt, fast ein Jahr später, stellt sich Adolf Sauerland vor den Stadtrat und trägt eine Art Entschuldigung vor. "Das ist doch nicht ehrlich, das kann ich nicht ernst nehmen", sagt Detlev Keye. Der OB mache das nur, weil der Jahrestag näherrücke - und damit die Schlagzeilen. Auch Jürgen Hagemann sagt: "Ich kenne keinen, der diese Entschuldigung akzeptiert. Die meisten wollen davon nichts mehr hören."

Das Thema ist allgegenwärtig in Duisburg

Die Love-Parade hängt noch immer wie ein Schatten über Duisburg. Das Thema ist allgegenwärtig, und das liegt auch an Sauerland, der beharrlich an seinem Amt festhält, drüben im Rathaus am Burgplatz. An einem Biertisch in der Fußgängerzone sammelt die Initiative "Neuanfang für Duisburg" Unterschriften. 52.000 Namen braucht sie bis Oktober, dann kann das Bürgerbegehren zur Abwahl des Oberbürgermeisters stattfinden. Eigentlich endet Sauerlands Amtszeit erst 2015.

Es ist viel los an diesem Samstagnachmittag. Die Frau hinter dem Tisch müsste gar nicht so aufgebracht über Sauerland schimpfen - es bleiben auch so genügend Passanten stehen und tragen sich beipflichtend ein. Nur eine ältere, rundliche Dame schüttelt den Kopf: "Auf unseren Oberbürgermeister lass' ich nichts kommen", sagt sie. "Der hat viel für uns getan. Der hat aus einem Dorf eine Stadt gemacht."

Keye befürchtet eine Kündigung

Detlev Keye will sich in den nächsten Wochen auch in die Unterschriftenliste eintragen. Er resigniert nicht, obwohl oder gerade weil er nicht weiß, wie es weitergeht. "Ich hänge in der Luft", sagt der 45-Jährige wütend. "Ich fühle mich im Stich gelassen und bin maßlos enttäuscht von der Politik und der Gesellschaft." Sein Arbeitgeber habe kein Verständnis für ihn, nach 20 Jahren Zusammenarbeit. "Trauma, so etwas gibt es für ihn nicht." Noch ist Keye krankgeschrieben, doch er hat Angst, dass bald die Kündigung im Briefkasten liegt. "Mein altes Leben - alles vorbei", sagt er.

Jürgen Hagemann kennt diese Tragödien. "Manche haben zurück in den Alltag gefunden. Andere mussten in Frührente gehen und haben plötzlich 1000 Euro im Monat weniger zur Verfügung." Seine Tochter Virginia hat ein Jahr verloren, aber sie hat wieder Hoffnung. Nach einer abgebrochenen Ausbildung, monatelangen Therapien und einem Praktikum beginnt sie nach den Sommerferien eine neue Ausbildung. "Die Love-Parade hat die Lebensplanung eines jungen Menschen durcheinandergebracht. Aber Virginia ist auf einem guten Weg", sagt der 47-Jährige, der in dem Café jetzt Plakate verteilt. Am Freitag vor dem Jahrestag soll eine Musiknacht in Duisburger Clubs und Kneipen an die erinnern, die nicht mehr da sind. Es soll eine fröhliche Veranstaltung sein, so, wie der 24. Juli 2010 hätte werden sollen. Virginia wird auch hingehen. Vielleicht gelingt ihr ein Schritt in eine unbeschwertere Zukunft.

Von der Friedensdemo zur Massenparty - 21 Jahre Love-Parade

Anfang: 150 tanzende Leute, drei Musikwagen und das Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ – so fängt am 1. Juli 1989, als Dr. Motte zur ersten Love-Parade auf dem Berliner Ku’damm aufruft, alles an. Bald kommen Hunderttausende. Die Parade verpasst Deutschland ein junges Image. 1999 feiern 1,5 Millionen. 2006 steigt Motte aus – die Love- Parade ist ihm zu kommerziell geworden. Der neue Veranstalter heißt Rainer Schaller, Betreiber der Fitnesskette McFit.

Umzug: 2007 soll das Ruhrgebiet für fünf Jahre die Parade austragen. Nach Essen kommen 1,2 Millionen Raver, 2008 nach Dortmund 1,6 Millionen. Später wird klar: diese Zahlen sind geschönt.

Ende: 2009 fällt die Parade aus, da Bochum sie für zu gefährlich hält. Duisburg zieht es 2010 durch. Die Love-Parade endet in einer Katastrophe.