Seit 65 Jahren macht Ludwig Schülzle in seinem Familienbetrieb in Burladingen Kino. Weder die Digitalisierung noch die aufgesprühten Hakenkreuze an der Fassade seiner Alb-Lichtspiele haben ihn davon abgebracht. Ans Aufhören denkt der 81-Jährige noch lange nicht.

Burladingen - Die Kammer, in der die Zeit stehen geblieben ist, hat keine Fenster und steckt voller antiquierter Technik. „Das war hier früher wie in einer Sauna“, erinnert sich Ludwig Schülzle, „heiß, eng und brandgefährlich.“ Mit flinken Fingern greift der 81-Jährige nach dem 35-Millimeter-Film im Regal. Er fädelt ihn in den Spulenturm ein, zieht das Band wie eine Wäscheleine quer durch den Raum, über mehrere Umlaufrollen hinein ins Herzstück des Vorführraums mit dem Namen Zeiss Ikon Entenmann 8. Ein Projektor wie ein Ungetüm, ratternd, nachtschwarz, im Innern leuchtend. „Er tut immer noch“, freut sich Schülzle und dreht stolz an den Knöpfen.

 

Der Projektor aus der Nachkriegszeit und der Kinochef haben fast gleich lang durchgehalten: Seit der Gründung der Alb-Lichtspiele in Burladingen 1952 ist Ludwig Schülzle mit dabei. Ans Aufhören denkt der Mann, der Popcorn und anspruchsvolle Unterhaltung in den 11 000-Einwohner-Ort im Zollernalbkreis gebracht hat, bei Weitem noch nicht. In der Branche ist er ein Fossil: „Ich kenne niemanden, der das in Deutschland in seinem eigenen Kino länger macht“, sagt Thomas Schulz, Pressesprecher bei der Filmförderungsanstalt. Auch beim Hauptverband Deutscher Filmtheater in Berlin wird erstaunt aufgehorcht: Statistiken zu Betriebsjahren gäbe es nicht, aber die Ausdauer des Burladingers sei bemerkenswert. Oft werde die Firma an die nächste Generation abgegeben.

Der Schwabe hätte in seinem Kino längst entrümpeln können. Die zwei Projektoren samt den umständlichen Spulen auf den Schrott werfen. Die schweren Fallklappen aus der Wand zum Zuschauersaal ausbauen. Eine Sicherheitsmaßnahme aus früheren Zeiten: Die Klappen schlossen sich, wenn einer der Filmstreifen aus Nitrocellulose versehentlich in Brand geriet. Doch Ludwig Schülzle hängt am Alten, so wie sein Publikum an ihm hängt. Sechs Euro kostet die Karte, vorwiegend anspruchsvolle Filme laufen in den zwei Sälen mit den roten Polstersitzen, die zuletzt in den 80er Jahren renoviert worden sind. Der Boden wellt sich, weil das Parkett, das aus Brandschutzgründen abgedeckt werden musste, quillt. Groß investieren will Schülzle nicht mehr, warum auch. Die beiden Töchter haben andere Jobs, ein Nachfolger, der alles übernehmen könnte, ist bisher nicht gefunden.

Statt US-Blockbuster werden Dokumentarfilme gezeigt

Es gibt Haribo-Colaflaschen, beste Sicht auf die Leinwand und ganz selten ein volles Haus – außer neulich, als die „Gabe zu heilen“ einen ausverkauften Abend bescherte. Ein bildstarker Dokumentarfilm über wundersame Handaufleger und Warzenbesprecher, der in Burladingen mehr Zuschauer anzieht als jeder US-Blockbuster. „Wir halten uns so über Wasser“, sagt Schülzle und tippt auf die Frage, warum er sich die viele Arbeit noch macht, mit einem Finger auf den Kopf. „Kino hält fit“, sagt der Rentner mit dem weißen wallenden Haar und der Goldbrille. „Das Hirn muss etwas zu schaffen haben.“ Zusammen mit seiner Frau Doris stemmt er die Abendvorstellungen, samstags und sonntags kommt nachmittags noch ein Kinderprogramm dazu. Früher arbeiteten noch eine Schwester und eine Tante im Betrieb mit, riss eine Nachbarin die Karten ab, doch nach und nach sind die Helfer verstorben.

In den Zeiten, als es noch keinen Fernseher gab, fing die Filmtradition in Burladingen mit romantischen Schnulzen im Wanderkino an. Zweimal im Monat kam der Kinobetreiber aus dem benachbarten Tailfingen mit einem Projektor vorbei, erzählt Schülzle. Da lief der halbe Ort zusammen und nahm Platz im Festsaal der Wirtschaft, die sein Großvater betrieb. Der Saal war nicht nur für Hochzeiten und Familienfeiern ideal, sondern auch für Aufführungen aller Art. Im Nationalsozialismus hat die Gaufilmstelle die Lokalität genutzt und das Programm festgelegt, gezeigt wurden U-Boot-Filme oder Kriegspropaganda.

Gerade mal 16 Jahre alt war Schülzle, als sein Vater beschloss, sein eigenes Kino zu eröffnen: mit 450 Sitzen und einem überwältigenden Interesse im Ort. Bei großem Andrang an Sonntagen wurden schnell noch ein paar Holzstühle aus der Wirtschaft nebenan herübergetragen. „Schon zwei Jahre später, 1954, musste ich alles übernehmen“, erinnert sich Schülzle. Sein Vater war nach einem Unfall gestorben, das Familienunternehmen musste weitergeführt werden. Schülzle volontierte beim Union-Theater in Stuttgart, dem heutigen Delphi, um sich in Sachen Kino schlau zu machen. Eigentlich hatte er ganz andere Pläne: „Ich wollte Koch oder Konditor werden“, sagt er rückblickend. Doch alsbald wusste er, dass er keine Wahl hatte.

Das Kino ist Schülzles Geschenk an die Burladinger

Anfangs liefen vor allem Heimatfilme in den Alb-Lichtspielen, beliebt waren auch die Western in den Spätvorstellungen. „Irgendwann haben die Amerikaner die Macht übernommen“, sagt Schülzle und hält sich mit Urteilen über die Qualität von Filmen vornehm zurück. „Was Kasse macht, ist schon mal gut“, sagt der Kinobetreiber, der als Technischer Leiter im örtlichen Schwimmbad genug verdient hat, um sich das Kino leisten zu können. Kommunale Unterstützung erhält er nicht – und seine Ansprüche an die Umsätze sind über die Jahrzehnte zurückgegangen. Pro Woche kommen im Schnitt 80 bis 90 Besucher, ein lukratives Geschäft sieht anders aus. Für Schülzle ist das Kino ein Geschenk an die Burladinger, eine Alternative zum Fernsehabend auf dem Sofa.

Im Vorführraum hat sich Schülzle in der analogen Vergangenheit eingerichtet, zwischen den Projektoren fühlt er sich wohl. Der Nostalgiker erzählt von Kohlebogenlampen, deren Stummel in Eimern, die mit Sand gefüllten waren, entsorgt werden mussten. Er zeigt auf eine Delle in der Decke, „die stammt von der riesigen Spule von Schindlers Liste“. Er hat Spaß daran, die Technik der Stumpfverklebung bei einem Filmriss zu demonstrieren und holt ein Gerät aus einem Schrank, das aussieht wie ein Locher. „Verkleben, stanzen, fertig“, sagt Schülzle und zieht kräftig an dem reparierten Film. Die Klebestelle hält.

Fast hätte die Digitalisierung das Ende des kleinen Kinos bedeutet

Auf die Digitalisierung ist der Unternehmer nicht gut zu sprechen, sie hätte fast das Ende seines Hauses bedeutet. „Die Kisten sind das notwendige Übel“, sagt er und deutet auf zwei Rechner in der hinteren Ecke des Raumes. Festplatten haben längst die Rollen ersetzt. Um auf den von den großen US-Studios propagierten Standard zu kommen, hätte er mindestens 130 000 Euro in die digitale Umrüstung stecken müssen. Eine utopische Summe, zumal die kleinen Lichtspiele ohne staatliche Fördergelder auskommen mussten. „Die US-Actionware habe ich sowieso nicht gespielt“, sagt Schülzle. Er hat sich vor ein paar Jahren für die schlanke Umrüstung entschieden, eine vom Fraunhofer-Institut entwickelte Technik, wie Schülzle erklärt. Er investierte 20 000 Euro in ein deutsches System, eine Digitalisierung light. Seither kann er nur noch eine eingeschränkte Auswahl an Filmen zeigen – viel deutsches Kino, europäische Streifen.

Nicht nur die Modernisierung hat Schülzle auf seine pragmatische Art gemeistert, auch den Rechtsruck in Burladingen. Eine überschaubare, aber unbelehrbare Gruppe Rechtsextremer hat sich in der Gemeinde eingenistet und macht seit Jahren Ärger. Auf deren Konto gehen wohl auch die Hakenkreuze und rechten Parolen, die 2015 über Nacht an der Fassade der Lichtspiele aufgetaucht waren. Provoziert durch den Film „Blut muss fließen – Undercover unter Nazis“, einer Dokumentation über die Rechtsrock-Szene, griffen die Täter zur Sprühdose.

Der Medienrummel nach den Nazi-Schmierereien war gewaltig

Schülzle ging in Deckung und setzte vorsichtshalber einen Film über den Hitler-Attentäter Georg Elser ab. Das brachte ihn erst recht in die Schlagzeilen, in den Medien wurde über die Naziparolen und die Einschüchterungsversuche berichtet. „Kino sagt Film aus Angst ab“, schrieb der „Stern“. Die Polizei fuhr verstärkt Streife, halb Deutschland interessierte sich für ein paar Momente für die Gemeinde am Alb-rand, die ansonsten wenig Aufmerksamkeit erhält. Außer Wolfgang Grupp, der umtriebige Chef des ortsansässigen Textilherstellers Trigema, meldet sich zu Wort – oder der parteilose Bürgermeister Harry Ebert fällt mal wieder durch fremdenfeindliche Äußerungen auf.

Der Rummel war den Schülzles zu viel, bis heute redet der Kinochef nicht gerne darüber. Nach einer kurzen Bedenkzeit stand für ihn nach all der Aufregung fest: Der Elser-Film wird trotzdem gezeigt. Sein Programm wolle er sich von niemandem diktieren lassen, sagt Schülzle selbstbewusst, „ich habe die Schmierereien damals überstrichen und abgehakt“.