Ludwig Uhland war einst als Dichter so bekannt wie Schiller und Goethe. Jetzt, zu seinem 150. Todestag, wird er als Politiker wiederentdeckt.

Stuttgart/Tübingen - Man muss es zweimal, dreimal, viermal hören, ehe man etwas versteht. Denn die uralte rotierende Walze aus brüchigem Wachs rauscht wie ein Wasserfall. Trotzdem jubeln die Forscher, es sei eine „Weltsensation“. Otto von Bismarck spricht, der eiserne Kanzler. Das einzige Tondokument, das es von ihm gibt, erst 2011 mühevoll entschlüsselt und hörbar gemacht, dauert lediglich eine Minute und dreizehn Sekunden. Es stammt aus dem Nachlass des genialen Erfinders Thomas Alva Edison und datiert vom 7. Oktober 1889. Ein Mitarbeiter hat es damals auf Schloss Friedrichsruh bei Hamburg aufgenommen. Der 74-jährige Reichskanzler zitiert aus dem Stegreif einige Gedichte, darunter dieses: „Als Kaiser Rotbart lobesam/ins heilge Land gezogen kam/da musst’ er mit dem frommen Heer/durch ein Gebirge wüst und leer.“

 

Die ersten deutschen Hörer urteilen rasch – leider „grottafalsch“, wie man auf Schwäbisch sagt. Das Gedicht, so behaupten sie voreilig, trage den Titel „Als Kaiser Rotbart lobesam“. Jeder halbwegs gebildete Schwabe weiß es besser. Das sind die ersten Zeilen der „Schwäbischen Kunde“ von Ludwig Uhland, gebürtig zu Tübingen am 26. April 1787, gestorben ebendort am 13. November 1862.

Die Gelehrten streiten sich bis heute

Uhlands 150. Todestag ist nicht mehr weit. Deshalb erinnert man sich jetzt in der alten Universitätsstadt am Oberen Neckar und anderswo an den asketisch-spröden Urheber der „Vaterländischen Gedichte“, ebenso an den patriotischen Altwürttemberger, der für Stuttgart und Tübingen mehrmals im Landtag saß, später ein gewichtiges Mitglied der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche war.

Dichter, Politiker und Gelehrter

Uhland war dreierlei. Erst ein Poet, der es im 19. Jahrhundert neben Schiller und Goethe zum dritten Nationaldichter der Deutschen brachte. Danach ein Politiker, der sich gegen die Todesstrafe, gegen den machtvollen Einfluss des Adels, vehement für das Urheberrecht, für öffentliche Sitzungen der Parlamente und für die kommunale Selbstverwaltung einsetzte. Schließlich reüssierte er als Professor an der Universität seiner Heimatstadt zu einem der Wegbereiter der Germanistik als Wissenschaft und Studienfach.

Eine Ausstellung, die heute im Tübinger Stadtmuseum im Kornhaus eröffnet wird, nennt Uhland sogar einen „Linksradikalen“. Man wolle damit provozieren, sagen die Macher, den Blick lenken auf diesen standhaften bürgerlichen Intellektuellen. Trotz alledem, das politische Etikett erscheint übertrieben, denn Klassenkampfparolen sind von Uhland nicht bekannt, in seinen Reden und Schriften sucht man die brennende soziale Frage vergebens. Die Einordnung „linksradikal“ beweist indes, dass die Gelehrten bis in unsere Tage darüber streiten, wer dieser Uhland war. Der Reichskanzler Bismarck konnte sein berühmtestes Gedicht auswendig hersagen – der schwäbische Dichter zählte mithin zu den Geistesgrößen.

Ein Schwaben- ist kein Schildbürgerstreich

Uhlands Tübinger Geburtshaus, Neckarhalde 24, gibt es noch; die Einrichtung als Gedenkstätte lässt auf sich warten. Als Bub besucht er die Lateinschule, später erhält er ein Stipendium für das berühmte Stift, 1805 beginnt er mit dem Studium der Jurisprudenz. Als er den Medizinstudenten Justinus Kerner kennenlernt, häufig mit ihm wandert, entstehen erste Gedichte: „Droben stehet die Kapelle/Schauet still ins Tal hinab“ – die wunderbare Ode auf die Wurmlinger Kapelle. Der Schwäbische Dichterkreis findet sich, Kerner und Uhland gründen das „Sonntagsblatt für gebildete Stände“, ein von Hand geschriebenes Gegenstück zum „Morgenblatt für gebildete Stände“, das der große Tübinger Verleger Cotta herausgibt.

Ein Schwabenstreich ist kein Schildbürgerstreich

Auf seinen Reisen durch Deutschland und bis hinüber nach Paris und Wien lernt Uhland, inzwischen Doktor der Rechte, die literarischen Größen seiner Zeit kennen: Adelbert von Chamisso, Karl August Varnhagen von Ense; auch Gustav Schwab schließt sich dem Freundeskreis an. Man nennt sie die „Tübinger Romantiker“. 1812 zieht Uhland nach Stuttgart, arbeitet als unbezahlter Sekretär im Justizministerium, später als freier Advokat, denn der Staat hat die Festanstellung abgelehnt.

1814/15 schreibt Uhland die folgenreiche „Schwäbische Kunde“. Doch die Forscher sind sich uneins: Hat er den Kreuzzug von Kaiser Friedrich Barbarossa, bei dem dieser ertrank, tatsächlich bitterernst genommen, oder hat er die grauslichen Geschehnisse satirisch-augenzwinkernd zu Gunsten aller wack’ren Schwaben überhöht? Spielte vielleicht die Tatsache eine Rolle, dass einer seiner Vorfahren im Krieg gegen die Türken vor Belgrad einen Gegner regelrecht niedergemetzelt hatte?

Der junge Poet jedenfalls, damals 28 Jahre alt, schildert den Mord martialisch: „Zur Rechten sah man wie zur Linken/nen halben Türken niedersinken.“ Zum Schluss belobigt er die Tat mit dem Prädikat „Schwabenstreich“ – oft und allzu leichtsinnig verwechselt mit den „Schildbürgerstreichen“, jenen Bürgern von Schilda also, die unbeirrt versuchen, das Tageslicht mit Körben in ein Haus ohne Fenster zu tragen. Uhland war gewiss, vor allem als Politiker, ein zwar aufrechter, aber eher glückloser Held – ein Schildbürger war er nie.

Die Zeit des großen Poeten neigt sich dem Ende zu

1815 erscheinen bei Cotta in Tübingen und Stuttgart Uhlands gesammelte Gedichte. Bis zum Ende werden es 200 sein, alles in allem erreichen sie mehr als 60 Auflagen. Er wird gelesen, auch in den Schulen, die Vertonungen werden zu Volksliedern, weit über seinen Tod hinaus. Von Uhland stammt unter anderem das Gedicht vom guten Kameraden: „Ich hatt’ einen Kameraden, ein besseren find’st du nicht“, vertont von seinem Zeitgenossen Friedrich Silcher, bis heute gespielt, wenn zu Tode gekommene Soldaten beerdigt werden – nicht nur in Deutschland. Fast fühlt man sich erinnert an den Weltkriegsschlager „Lilli Marleen“.

1819 endet die Zeit des großen Poeten Uhland – er wird Politiker, Mitglied des Landtags. Jahre zuvor war er Sprecher der württembergischen Landstände in der verfassunggebenden Versammlung. 1820 heiratet er Emilie Vischer aus Calw, eine Tochter reicher Leute, die ihm fortan ein unabhängiges Leben garantiert. Dafür muss er Kritik einstecken; es gilt als unehrenhaft, sich von seiner Frau aushalten zu lassen. Erst Jahrzehnte später werfen seine Gedichte nennenswerte Gewinne ab.

Bis 1826 bleibt Uhland im Landtag, danach folgen Jahre des Reisens mit seiner Frau. 1829 erreicht er endlich sein großes Ziel: eine Professur für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Tübingen. Aber Uhland bleibt ein politischer Kopf, legt sich immer wieder mit König Wilhelm I. von Württemberg an. Der Reformer auf dem Thron sieht in ihm zu Recht einen Gegner, der das Königtum abschaffen möchte. Als Uhland 1833 für Stuttgart wieder in den Landtag gewählt wird, verweigert ihm der König den nötigen Urlaub – Uhland bittet um seine Entlassung aus der Universität, was ihm gewährt wird. Wilhelm I. schreibt, er sei „als Professor ganz unnütz“. Eine Demütigung.

Kämpfer für das gemeine Volk

Sein Konterfei ziert eine DDR-Briefmarke

Jetzt beginnt Ludwig Uhlands stärkste politische Phase: Er wettert gegen die Todesstrafe, gegen die Verfolgung nicht genehmigter politischer Vereinigungen, gegen die Denunziationspflicht. Er votiert für die Pressefreiheit und dafür, das Militär einzuschränken. In einer Festansprache an die Stuttgarter Wähler sagt er 1838 den oft zitierten Satz: „Ich halt‘ es mit dem schlichten Sinn, der aus dem Volke spricht.“ 1838 kehrt er der Landespolitik endgültig den Rücken, wieder folgen zehn Jahre des Reisens und des Privatisierens.

1848 kommt Uhland wieder ins Blickfeld, die Gründung der ersten Nationalversammlung steht bevor, sein großes politisches Anliegen: „Die deutsche Einheit soll geschaffen werden“, fordert er immer wieder, das Vaterland müsse eine Republik sein. Für seinen Wahlkreis Tübingen-Rottenburg zieht er in die Paulskirche ein. Bewegte Zeiten. In seiner wohl wichtigsten Rede wendet sich Uhland gegen das „Erbkaisertum“, für die Direktwahl eines Reichsoberhauptes. Im Parlament setzt er sich demonstrativ zu den Linken, ohne ihnen anzugehören. Ein bürgerlicher Demokrat.

Der Tod des engsten Freundes

Als der Kaiser die Soldaten vor die Paulskirche schickt, flieht das Rumpfparlament ins vermeintlich so liberale Stuttgart, aber auch hier klammert sich die adelige Obrigkeit an Macht und Privilegien – Ludwig Uhland und seine Mitstreiter scheitern kläglich. Ernüchtert zieht er zurück nach Tübingen und wird Privatgelehrter. Als im Februar 1862 Justinus Kerner stirbt, sein ältester und engster Lebensfreund, reist er zur Beerdigung nach Weinsberg, holt sich dort eine schwere Erkältung – stirbt am 13. November 1862 an deren Folgen. Hunderte Bürger begleiten seinen Sarg auf den Tübinger Stadtfriedhof. Die württembergische Regierung aber bleibt der Feier fern.

Und heute? Was bedeutet uns Ludwig Uhland? In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat die DDR eine Briefmarke mit seinem Konterfei herausgebracht, damit versucht, ihn zu vereinnahmen als einen Vorkämpfer der klassenlosen Gesellschaft. Ein Kuriosum. Als Dichter und früher Germanist des Mittelalters gerät er Anfang des 21. Jahrhunderts zunehmend in Vergessenheit, womöglich aus gutem Grund. Als Politiker jedoch ist Uhland heute neu zu entdecken. Seine Reden zeugen von erstaunlichem Weitblick, manche seiner Themen und Thesen sind noch oder wieder aktuell. Uhland gilt zu Recht als volksnaher Streiter für die Demokratie, als Begründer des schwäbischen Liberalismus. Seine Idee von der Einheit des Vaterlandes, so pathetisch sie zu seinen Lebzeiten auch geklungen hat, ist 1990 Wirklichkeit geworden – reichlich spät, aber besser als nie.