Auf dem Neuen Friedhof in Ludwigsburg finden zweimal jährlich Trauerfeiern für Kinder statt, die mit mir weniger als 500 Gramm Gewicht zur Welt kommen und nicht lebensfähig sind. Die Trauer ihrer Eltern ist oft immer noch kein Thema.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Irgendwann zwischen Freitagnachmittag und Montagmittag hörte Benjamins Herz auf zu schlagen. Er wog zu diesem Zeitpunkt 100 Gramm und war 20,5 Zentimeter groß. Der Fußabdruck, den die Krankenschwestern von ihm machten, ist winzig. Keine zwei Zentimeter ist er groß. Dennoch hat der kleine Mensch, der am Ende der 19. Schwangerschaftswoche im Bauch seiner Mutter starb, tiefe Spuren im Leben seiner Eltern hinterlassen.

 

Und nicht nur bei ihnen. Das Kind, das in den Augen vieler noch gar kein Kind war, fehlt. Gedankenlos dahingesprochene Sätze wie „Ihr seid ja noch so jung“ und „Wer weiß, wozu es gut war“ mag seine Mutter Kristin (28) nicht mehr hören. Sie hat Angst vor der Begegnung mit Kunden, die noch nichts vom Tod ihres Kindes wissen und neugierig nach ihm fragen. Denn Benjamin fehlt ihr und seinem Vater Dennis (34). Aber auch seine Großeltern haben einen Enkel verloren, der Onkel und die Tante einen Neffen und deren Kinder einen Cousin, den sie zärtlich schon Krümel genannt hatten, wenn sie ihr Ohr an Kristins Bauch legten. Eine ganze Familie trauert. Mit dem Tod Benjamins ist ihnen ein Stück Zukunft genommen worden.

Die Herztöne verstummten, die Geburt wurde eingeleitet

Benjamins Tod und seine Geburt sind jetzt gut sieben Wochen her. „Ich durfte mein Kind gebären“, sagt Kristin dankbar. Sie sagt das sehr bewusst. Das sei der letzte Dienst, den sie ihrem Sohn tun konnte. Denn auf ein Wochenende voll furchtsamer Vermutungen, dass mit dem Kind in ihrem Bauch etwas nicht in Ordnung sein könnte, folgte das Verstummen der Herztöne – und dann die Gabe wehenfördernder Medikamente durch die Ärzte. Es dauerte fast vier Tage, bis Kristins Körper das Kind hergab, das sie sich so sehr gewünscht hatte. Sein Vater, der seinen Sohn noch einmal sah und sagt „er sah lieb“ aus, hatte die traurige Aufgabe, Freunden und Arbeitskollegen zu sagen, dass dieser Sohn gestorben sei. Wohl an einer Chromosomenanomalie, die ihm die Lebenschance nahm.

Ende April haben sie Benjamin zu Grabe getragen, alle miteinander, die ganze Großfamilie. Zusammen mit anderen Eltern, die ebenfalls ein Kind verloren haben, das sie ein Sternenkind nennen. Das sind in diesem Fall Kinder, die bei ihrer Geburt weniger als 500 Gramm wiegen und nicht lebensfähig sind. Weshalb ihnen das Gesetz lange eine ordentliche Beisetzung verweigert hat. Seit der Jahrtausendwende ist das anders.

Gemeinschaftsgrab für die Allerkleinsten

Das Klinikum Ludwigsburg hat schon im bald im Jahr 2000 auf dem Neuen Friedhof ein großes Grab gekauft. Es bietet Eltern an, ihr Kind hier zusammen mit anderen in einer Gemeinschaftsurne bestatten zu lassen. Die Kosten trägt die Klinik. Die evangelische Krankenhausseelsorgerin Hildegard Renovanz-Grützmacher ist Mitinitiatorin dieses Projekts und begleitet betroffene Eltern seit Jahren. „Wir versuchen Eltern Mut zu machen, ihre Trauer zu zeigen“, sagt sie. Für manche, so hat die Pfarrerin beobachtet, sei der Gedanke schwer, ein Grab zu haben. Es steht für den Tod. Für andere jedoch sei ein Grab ein Ort für ihre Trauer, die gesellschaftlich noch immer nicht gesehen wird. Aber wie sich Paare auch entscheiden, „es ist ihr Weg und der ist richtig“, sagt Renovanz-Grützmacher.

Kristin und Dennis haben das Gemeinschaftsgrab für ihren Sohn gewählt. „Dann ist Benjamin nicht alleine“, sagt sein Vater. Dieser Gedanke ist ihm ein Trost in seiner Trauer. Das Grab leuchtet schon von weitem, weil so viele Pflanzen auf ihm blühen. Wie eine Blumenwiese sieht es aus. Jedes Jahr wird sie ein bisschen größer. Denn zweimal jährlich finden dort Beisetzungen statt, für Kinder wie Benjamin, die in den Kliniken Ludwigsburg oder Bietigheim zur Welt gekommen sind. Im letzten Halbjahr waren es 73 Kinder.

das Grab bezeugt, dass Benjamin gelebt hat

Noch vergeht fast kein Tag, an dem Benjamins Mutter nicht auf dem Heimweg von der Arbeit an diesem Grab, das optisch so gar nichts Erdenschweres hat, vorbeifährt. Die Trauerfeier hat ihr geholfen. Am Grab sei es noch einmal schlimm gewesen. Aber an diesem Freitag im April ist sie zum ersten Mal von dem Grab weggegangen, ohne „Rotz und Wasser zu heulen“. Für sie bezeugt das Grab, dass Benjamin Teil ihres Lebens ist.

Doch das Grab ist nur ein Schritt dahin, „dass Benjamin gesellschaftlich wahrgenommen wird“, sagt Kristin. Und es scheint noch ein weiter Weg, dass ihr Wunsch Wirklichkeit wird. Obwohl sie ein Kind zur Welt gebracht hat, steht ihr kein Mutterschutz zu. In Telefonaten mit der Klinik sah sie sich mit einer herzlosen bürokratischen Sprache und Abrechnungspraxis konfrontiert, die wenig Verständnis für den Schmerz von Eltern zeigen. Außerdem wartet sie sehnsüchtig darauf, dass Bundespräsident Joachim Gauck endlich das Gesetz unterschreibt, durch welches das Personenstandrecht geändert wird. Dann können sie und andere Eltern ein Kind wie Benjamin endlich auch beim Standesamt registrieren lassen. Wer in den Büchern steht, existiert. Nicht nur in der Erinnerung seiner Eltern.