Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)
Herr Bischoff, das Neugeborene in Ihrem Roman wird in einer Müllsortierungsanlage gefunden. Wie kam es zu dieser Szenerie?
Bischoff Ich kenne jemanden, der beim Jugendamt arbeitet. Dadurch habe ich vom Schicksal einer jungen Frau erfahren, die lange im Gefängnis saß, weil sie ihr Kind direkt nach der Geburt umgebracht hat. Ich bin ja auch Familienvater, habe zwei Kinder. Ich weiß selber, wie es ist, eine Schwangerschaft positiv zu erleben, und wie man sich auf ein Kind freuen kann, weil man es sich gewünscht hat. Ich fand es interessant, dem nachzugehen, was eine Frau umtreibt, die ein Kind neun Monate in ihrem Bauch trägt und es nach der Geburt tötet. Ich hatte die Möglichkeit, recht gut und intensiv zu recherchieren. Es gibt zu dem Thema auch viel Material. Statistisch gesehen sind es in Deutschland um die 20 Fälle pro Jahr. Meistens sind es die Mütter, ganz selten die Väter oder die Großmütter.
Durch Ihren Ermittler, der selbst überforderter Vater ist, halten Sie sich das Geschehen nicht so richtig vom Leib. Heißt das, solche Geschichten treiben Sie auch emotional um?
Bischoff Richtig distanziert ist man ja nie beim Schreiben. Man lebt sehr mit seinen Figuren. Alles andere wäre furchtbar. In dem speziellen Fall kam einiges zusammen. Ich weiß selbst, wie es ist, wenn die Kinder schreien und man sich überfordert fühlt. Irgendwann wurde mir klar, dass das große Thema des Buches eigentlich Familie ist. Es geht schon auch um den Mord und dessen Aufklärung. Aber das große Thema ist die Familie. Ich habe ja auch selber ein Familienleben, das nicht immer reibungslos abläuft. Da bekomme ich jetzt auch viele Rückmeldungen, vor allem von Frauen, die sagen: genauso war das bei uns auch.
Frau Lieb, können Sie das Thema eher auf Distanz halten, wenn Sie es als historisches Dokument vor sich liegen haben?
Lieb Eigentlich nicht. Ich habe mir das ja bewusst rausgesucht. Wenn die Frauen erzählen, wie die heimliche Geburt vonstatten gegangen ist, dann geht es einem schon sehr nah. Herr Bischoff hat eben erwähnt, dass Frauen sich bei ihm melden und beim Lesen seines Buches sich an ihre eigene Überforderung erinnern. Mir ist ein Satz eingefallen zu meinen Zwillingen und ihrem Bruder, die im Abstand von anderthalb Jahren auf die Welt kamen und immer an mir dran hingen. Da rutschte mir mal der Satz raus: „Gleich schmeiß’ ich euch an die Wand.“ Das fällt mir gerade wieder ein, ja, das war schon eine heftige Äußerung.