Die Künstlerin Sara Focke Levin hat die Fotografien von Paul Kemmler, dem Leiter der Weinsberger Heilanstalt, als Grundlage für Porträts genommen. Wie vor hundert Jahren ist dabei unwichtig, dass die Männer und Frauen Psychiatriepatienten waren.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Schon den Fotografien Paul Kemmlers kann sich kaum jemand entziehen. Der erste Leiter der Königlichen Heilanstalt Weinsberg machte sie in den Jahren zwischen 1903 und 1918 von seinen Patienten. Wer die Entstehungsgeschichte der Bilder nicht kennt, käme nicht auf die Idee, dass es sich um Abbildungen von Bewohnern einer geschlossenen Anstalt handelt. Denn Kemmler nutzte das Medium der Fotografie nicht, um seine Patienten für die Akte abzulichten, ihre Krankheit zu betonen und sie damit auszugrenzen und zu stigmatisieren. Er fotografierte sie, wie es in der bürgerlichen Porträtfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich war: schön angezogen und in inszenierter Umgebung. Das verleiht den Fotografierten Würde, lässt ihnen ihre Individualität und zeugt von der Zugewandtheit des Fotografen zu den Menschen. Damit unterscheiden sich die Fotos von denen aus anderen Anstalten dieser Zeit.

 

Fotografien liegen nun im Staatsarchiv Ludwigsburg

Paul Kemmler hat nicht mehr miterlebt, wie die Nationalsozialisten seinen Blick auf die Menschen mit Behinderung ins Gegenteil verkehrten und sie ermordeten. Er starb 1928. Insofern ist es auch ein kleiner Triumph über das Schicksal, wenn diese Bilder unbemerkt in einer alten Kommode irgendwo in der Weinsberger Einrichtung die Zeiten überdauert haben. Die etwa 1000 Glasplatten, die Kemmler belichtet hat, gehören heute zum Bestand des Staatsarchivs Ludwigsburg.

Dass sie nicht einfach weiterhin im Magazin verborgen blieben, war dem Archivleiter Peter Müller ein Anliegen. Längst ist der Bestand digitalisiert und in einer Ausstellung zu sehen gewesen. „Wir sehen, dass die Bilder häufig angeklickt werden“, sagt Müller zufrieden. Und als er die Ludwigsburger Künstlerin Sara Focke Levin (51) auf die 1000 Fotografien hinwies, erlag auch sie sofort der Anziehungskraft dieser ungewöhnlichen Aufnahmen. Kaum hatte die Künstlerin von dem Schatz gehört, „entstanden auch schon die ersten Werke“. Das ist ganz in Müllers Sinn, dessen Maxime es ist, dass ein Archiv etwas in die heutige Zeit zurückgeben müsse.