Die Autorin Sibylle Knauss findet, es sei an der Zeit, das Alter neu zu erzählen – Sexualität inklusive. Im Mittelpunkt ihres neuen Buches „Das Liebesgedächtnis“ steht eine alte Frau, die sich verliebt und gleichzeitig ihr Gedächtnis verliert.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Ludwigsburg - Sibylle Knauss sitzt in ihrer Wohnung in Ludwigsburg. Die gönnt sie sich zusätzlich zum Hausstand in Remseck, den sie mit ihrem Mann Albrecht Ade, dem ehemaligen Direktor der Filmakademie Baden-Württemberg, teilt. „A room of one’s Own“, sagt sie, sei das und spielt auf Virginia Woolfs Schrift an, in der die Emanzipation für jede Frau mit einem eigenen Zimmer und einer Tür, die sie hinter sich zumachen kann, beginnt. Eine Fotografie Woolfs hängt an der Wand. Der Blick vom Schreibtisch der Schriftstellerin geht auf den Turm der Friedenskirche. „Man weiß eben nie, wie lange man die Tür geschlossen halten kann“, sagt sie und meint damit die notwendige Ruhe zum Schreiben.

 

Davon, dass man diese Tür nicht immer zuhalten will, erzählt ihr neuestes Buch „Das Liebesgedächtnis“. Manchmal klopft das Leben eben unerwarteterweise an. Und so beginnt das Buch mit einem Satz, der wie ein Paukenschlag wirkt. „Im Sommer 2001 verliebte ich mich noch einmal und begann, mein Gedächtnis zu verlieren“, schreibt die 69-jährige Protagonistin. Es geht also um die Liebe und den Gedächtnisverlust zugleich. Zwei Dinge, die viele nicht zusammendenken wollen, die Sibylle Knauss aber ganz bewusst zusammenführt.

Brechts Greisin hat ihr nie gefallen

Die Zeit war reif, das Alter neu zu erzählen

„Welche Rollenbilder gibt es für alte Frauen“, fragt sie provokativ. Es gebe die Hexe, die als Single abseits der Gesellschaft lebe. Die unwürdige Greisin Bertolt Brechts habe ihr nie gefallen, weil ein selbstbestimmtes Leben im Alter für sie nicht gleichbedeutend mit einem überkandidelten Lebensstil sei. Kurzum, für Knauss war die Zeit reif, „das Alter neu zu erzählen“. Schon aus der Distanz, als sie selbst um die 40 gewesen sei, habe sie sich gefragt, was aus der Liebe im Alter werde. „Die Vorstellung, man geht über eine Schwelle und danach sind keine Nähe, keine Zärtlichkeit und keine großen Gefühle mehr, hat mir Angst gemacht.“ Eine Antwort habe sie auf ihre Fragen in der Literatur nicht bekommen. „Meine Geschichte handelt davon, dass die Liebe bleibt“, sagt sie fast trotzig. Sie wollte so den weiblichen Lebensentwürfen einen weiteren hinzufügen.

Sie hat die Form der Erzählung gewählt und ihren bisherigen Romanheldinnen eine alte, mit Körper und Geist liebende Frau an die Seite gestellt. Neben „Evas Cousine“, dem Bestsellerbuch über die Cousine der Hitler-Geliebten Eva Braun und der realen britischen Archäologin Mary Leakey steht nun Beate, die Schriftstellerin.

Irgendwann zählt nur noch das Gedächtnis der Haut

Richtig gelesen, die Heldin ist Schriftstellerin – und dennoch zögert Knauss, „Das Liebesgedächtnis“, ihren 13. Roman, als ihr persönlichstes Buch zu bezeichnen. Tatsache ist jedoch, dass es von einer Autorin in Knauss’ Alter erzählt, die ebenfalls gerade ihren 13. Roman schreibt. Darin versucht sie, ihr langsam schwindendes Gedächtnis als Datei auf eine Notebookfestplatte auszulagern, indem sie von ihrer letzten großen Liebe im Alter erzählt. „Ich hoffe, dass mich mein Gedächtnis nicht verlässt, bevor ich davon erzählt habe“, heißt es an einer Stelle. Das Wort Demenz fällt erst nach einem Viertel des Buches. Deutlich aber wird, dass irgendwann in der Liebe nur noch das Gedächtnis der Haut, des Geruchs und des Gefühls zählen.

Das Beispiel ihrer Mutter vor Augen

Natürlich passen viele Beschreibungen dieses „vielleicht optimistischen Buches“ (Knauss) auch auf seine Autorin. „Das Buch spielt hier und heute“, sagt sie. Und natürlich habe sie das Beispiel ihrer Mutter vor Augen, deren Demenz genau in dem Alter einsetzte, als Knauss’ Protagonistin beginnt, diese Veränderungen an sich selbst zu bemerken. Und da ist die authentische Autorin und Frau Sibylle Knauss, die sich ebenso wie ihre Romanfigur fragt, was im Alter von der Liebe bleibt, wie sie sich anfühlt und was vom Schreiben bleibt, wenn das Gedächtnis schwindet. „Diese Vorstellung ist katastrophal und der Horror schlechthin für mich“, sagt Knauss schonungslos offen. Aber dann zieht sie sich schnell wieder auf die Position der Leserin zurück, die sie ja auch sei. „Fragt man sich nicht immer, wie viel ein Autor von sich preisgibt“, fragt sie zurück – und bezeichnet dieses Wechselspiel als den notwendigen Spannungsbogen, um den Leser bei der Stange zu halten.

Schreiben war immer der Kampf um die Zeit dafür

Die Wohnung, die sie sich zum Schreiben gönnt, ist also auch Schutzraum, in dem sie nur Autorin ist. Denn vor der Tür führt sie das Leben einer Frau jenseits der 70, ist Ehefrau und holt zwei- bis dreimal die Woche ihre Enkelin vom Kindergarten ab. Sie kenne es gar nicht anders, als dass sie ihre Kinder, den Beruf und das Schreiben unter einen Hut bringen musste. Da braucht man ab und zu schon mal eine Tür.

Buchvorstellung in Ludwigsburg

Person
Sibylle Knauss (70) hat Germanistik, Anglistik und Theologie studiert und als Lehrerin gearbeitet. 1981 erschien ihr erster Roman „Ach Elise oder Lieben ist ein einsames Geschäft“. Ihr Roman „Evas Cousine“, der auf Gesprächen mit der Cousine der Hitler-Geliebten Eva Braun fußt, wurde 2002 von der New York Times als eines der Bücher des Jahres eingestuft. Knauss war als Professorin für Drehbuch an der Filmakademie Baden-Württemberg tätig. Sie lebt in Remseck und Ludwigsburg.

Buch
„Das Liebesgedächtnis“, 190 Seiten, ist bei Klöpfer & Meyer erschienen und kostet 20 Euro. Sibylle Knauss stellt ihr Buch am Freitag, 13. Februar, um 20 Uhr in der Stadtbücherei Ludwigsburg vor, anschließend am 17. März im Literaturhaus Stuttgart