Der 13-jährige Gianluca muss seit einem Unfall vor elf Jahren rund um die Uhr umsorgt werden. Das ging lange gut, doch jetzt fehlt geeignetes Personal – eine Folge des Pflegenotstandes.

Ludwigsburg – Elf Minuten haben das Leben der Familie Köhler verändert. Elf Minuten, in denen Gianluca keine Luft bekam, weil er sich an einer kleinen Salzbrezel verschluckt hatte. Seitdem befindet er sich im Wachkoma und muss rund um die Uhr gepflegt werden. Doch angesichts des Pflegenotstandes wird das immer schwieriger: Seit Monaten sucht Gianlucas Mutter nach neuem Personal – vergeblich. Wenn sie weiterhin niemanden findet, muss sie ihren Sohn wohl ins Pflegeheim geben. Doch das will sie auf gar keinen Fall.

 

Elf Jahre ist Gianlucas Unfall mittlerweile her. Er war zwei Jahre alt, als er sich verschluckte und nur durch einen Luftröhrenschnitt gerettet werden konnte. Seitdem kann Gianluca nicht mehr sprechen und sich kaum noch selbstständig bewegen. Er sitzt im Rollstuhl und kommuniziert hauptsächlich über seine Augen: Wenn ihn etwas interessiert, öffnet er sie ganz weit, wenn ihn etwas stört, schließt er sie. So zumindest erklärt es seine Mutter Arabella Köhler. Für Außenstehende hingegen ist es schwierig zu erkennen, wie es Gianluca geht. Das mache auch die Pflege komplizierter, sagt seine Mutter.

Gianluca benötigt ganz spezielle Intensivpflege

Hinzu kommt, dass Gianluca intensivpflegerisch betreut werden muss: Seine schwache Lunge muss ständig überwacht und immer wieder abgesaugt werden, seine Magensonde muss kontrolliert und sein Körper immer wieder gelagert werden. Nur eine eigens ausgebildete und staatlich geprüfte Pflegekraft darf diese Arbeiten erledigen – doch davon gibt es viel zu wenige.

Jahrelang habe sie keine Probleme gehabt, Pflegekräfte zu finden, erzählt Arabella Köhler. Sie habe stets einen festen Stamm von vier bis fünf Vollzeitkräften gehabt, die sich die Zehn-Stunden-Dienste geteilt hätten. Doch einige wollten sich beruflich weiterentwickeln und kündigten. Seit einigen Monaten kümmern sich deshalb nur noch zwei 100-Prozent-Kräfte um Gianluca. Das reiche nur gerade so und auch nur dann, wenn genügend Aushilfen auf 400-Euro-Basis die Lücken füllten, erzählt Köhler. Die Situation sei alles andere als ideal. Denn die Aushilfen kommen vergleichsweise selten: „Sie können Gianluca deshalb nicht so gut einschätzen und verstehen oft nicht, warum die Dinge auf eine bestimmte Weise gemacht werden müssen“, erklärt die Mutter.

Ohne neues Personal muss Gianluca in ein Pflegeheim

Zudem sei die Situation extrem belastend für die aktuellen Vollzeitkräfte. Sie hätten ständig Dienst und häuften eine Überstunde nach der anderen an: „Das kann ja auch nicht Sinn der Sache sein“, sagt die Mutter. Zumal: sobald eine der Krankenschwestern Urlaub machen wolle oder krank werde, breche das fragile Versorgungssystem zusammen. Wenn sie nicht bald weitere Pflegekräfte finde, dann sei die einzige Alternative, Gianluca künftig in einem Pflegeheim oder einem speziellen Internat versorgen zu lassen. Denn sie selbst könne sich nicht allein um ihn kümmern: Zum einen sei sie nicht dafür ausgebildet und zum anderen müsse sie sich auch um ihren zweiten, zehnjährigen Sohn sowie um ihre Arbeit kümmern.

Die Krankenschwestern, die Gianluca versorgen, sind bei einem Pflegedienst angestellt. Dieser übernimmt die Buchhaltung und die Kommunikation mit der Krankenkasse und sorgt dafür, dass die Pflegekräfte gewisse Standards bei ihrer Arbeit einhalten. Doch auch die Pflegedienste wissen nicht mehr, wo sie ihr Personal rekrutieren sollen. „Wir haben ganz klar einen Fachkräftemangel in der Pflege“, sagt Jochen Wams/*er von der Geschäftsstelle des Landesverbandes für Ambulante Dienste und Stationäre Einrichtungen.

Ausländische Pfleger sind für kleine Dienste keine Option

Für Pflegedienste werde es immer schwieriger, gute Kräfte zu finden, berichtet Wamser. Zumal es für ambulante Dienste kaum eine Option sei, Krankenschwestern aus dem Ausland einzustellen. Diese müssten oft noch einen Sprachkurs absolvieren, ihre Qualifikation in Deutschland anerkennen lassen und aufwendig eingelernt werden. Das könne bis zu einem Jahr dauern und sei daher vielleicht eine Alternative für große Krankenhäuser, „aber in einem kleinen Pflegedienst braucht man die Leute von heute auf morgen“.

Personal für eine Intensivpflege wie bei Gianluca zu finden, sei noch eine Stufe schwieriger: Nur etwa zehn Prozent aller Pflegekräfte hätten die notwendige Spezialisierung für diese Art der Versorgung, berichtet Wamser. Arabella Köhler will dennoch die Hoffnung nicht aufgeben: „Ich kämpfe dafür, dass mein Sohn weiter zu Hause leben kann.“

Patienten im Wachkoma

Apallisches Syndrom
: Das umgangssprachlich als Wachkoma bezeichnete apallische Syndrom wird durch schwerste Schädigungen des Gehirns hervorgerufen. Am häufigsten werden diese durch ein Schädel-Hirn-Trauma oder Sauerstoffmangel verursacht. Die Betroffenen können nicht essen, nicht trinken und kaum bis gar nicht kommunizieren. Dennoch haben sie einen Schlaf-Wach-Rhythmus, manche reagieren zudem auf äußere Reize.

Intensivpflege
: Für die sogenannte Intensivpflege gelten noch strengere Kriterien als für die reguläre Pflege. Die Fachkräfte müssen nach ihrer dreijährigen Ausbildung zur Krankenschwester oder zum Pfleger eine weitere zweijährige, meist berufsbegleitende Weiterbildung absolvieren. Pflegedienste, die Intensivpflege anbieten, müssen mindestens fünf Vollzeitkräfte vorhalten – bei der regulären Pflege sind es nur drei. Wer nicht dafür ausgebildete Kräfte in der Intensivpflege einsetzt, riskiert eine Anzeige wegen Betrugs.