Warum scheuen viele Zuhörer vor Neuer Musik zurück? In Ludwigsburg wagt der Intendant Thomas Wördehoff ein Experiment: In ausgewählten Konzerten erklingen zeitgenössische Werke, die nicht auf dem Programm stehen, und werden anschließend von einem prominenten Musik-Laien öffentlich kommentiert. Ein Konzept, das ankommt.

Ludwigsburg - Welch tolles Stück, denkt man beim Hören von Salvatore Sciarrinos Andante aus den „Sei Capricci“ für Violine solo, das Carolin Widmann im Ludwigsburger Ordenssaal spielt. Auf sinnliche Weise werden darin die Übergänge zwischen Geräusch und Geigenklang ausgelotet; es ist eine auratische, fast meditative Musik. Carolin Widmann spielt sie am Ende der ersten Hälfte ihres Konzerts mit dem Auryn Quartett und Alexander Lonquich bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen. Allerdings steht es nicht auf dem Programm, denn der Intendant Thomas Wördehoff wagt in dieser Saison ein Experiment: Bei acht ausgewählten Konzerten spielen die Musiker zusätzlich zum annoncierten Programm ein oder mehrere zeitgenössische Stücke, die im Programmheft mit „Ins Ungewisse“ bezeichnet sind. Wördehoff möchte damit ein festgefahrene Situation aufbrechen. Er habe festgestellt, dass der Umgang mit zeitgenössischer Musik seitens der Zuhörer „nicht locker“ sei. „Bei Stücken oder Komponisten, die sie nicht kennen, werden viele unsicher. Und die häufigste Aussage ist: Ich versteh’ davon nichts.“ Es sei doch seltsam, dass viele meinten, ein sinnliches Medium wie die Musik nur über Kompetenz erfahren zu können und nicht über die eigene Wahrnehmung. Da wolle er ansetzen – am eigenen „Hörempfinden“.

 

So hat Wördehoff für jedes dieser Konzerte einen sogenannten Hörpaten eingeladen, mit dem er nach der Aufführung des Stücks über dessen Eindrücke spricht. Die Hörpaten sind keine Spezialisten, sondern Menschen, die sich für Musik interessieren – wobei etwas Prominenz gerade in Ludwigsburg nicht schaden kann, und so waren bisher unter anderen der Koch Vincent Klink, die designierte Leiterin des Marbacher Literaturarchivs, Sandra Richter, und der Dichter Wolf Wondratschek unter den Hörpaten. Deren Kommentare waren denn auch höchst individuell und offenbarten mindestens so viel über die Persönlichkeit der Hörpaten wie über die gehörten Werke. Einige Aussagen provozierten auch Gegenreaktionen vonseiten des Publikums, und dabei zeigte sich ein Widerspruch, der charakteristisch für die Situation zeitgenössischer E-Musik ist. Ein Konzertbesucher, der sich Wördehoff gegenüber begeistert über das Geigenstück Sciarrinos geäußert hatte, wurde von ihm gefragt, ob er auch ins Konzert gekommen wäre, wenn Werke von Sciarrino auf dem Programm gestanden hätten. Seine Antwort: Wahrscheinlich nicht.

Wenn unbekannte Werke auf dem Programm stehen, gehen viele gar nicht erst hin

Das ist paradox. Es gibt heutzutage offenbar Neue Musik, die gefällt. Doch das Publikum bekommt sie nicht zu hören, denn wenn unbekannte Werke auf dem Programm stehen, geht es gar nicht erst hin, und das ist nicht nur in Ludwigsburg so. Man könnte diese Situation als Ergebnis einer fortschreitenden Entfremdung zwischen Komponisten und Publikum beschreiben, die dazu geführt hat, dass – eine einmalige Situation in der Musikgeschichte – Programme klassischer Musik fast ausschließlich aus historischen Werken bestehen. Eingesetzt hat diese Entwicklung schon im 19. Jahrhundert mit der Erweiterung und Auflösung der Tonalität, der viele Hörer nicht folgen konnten oder wollten. Fortgesetzt wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg, als nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes der jungen Komponistengeneration erst einmal alles suspekt war, was mit bürgerlicher Musikkultur zu tun hatte. Luigi Nonos Behauptung, Melodie sei „eine bourgeoise Angelegenheit“, teilten damals viele, und so entwickelte sich im Kreis von Komponisten wie Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen eine hoch komplexe Tonkunst, in der Kategorien wie Melodie, Harmonie und (nachvollziehbarer) Rhythmus kaum noch eine Rolle spielten. Ausdruck war verdächtig, und Komponisten wie Hans Werner Henze, für die Kategorien wie Sinnlichkeit und Schönheit wichtig waren, mussten schon mal verbale Prügel seitens ihrer Kollegen einstecken.

Die Zuhörer spielten bei alledem eine eher untergeordnete Rolle. Viele Komponisten teilten damals die Auffassung, dass das bürgerliche Konzertpublikum ohnehin der falsche Adressat für ihre Werke sei, und zogen sich auf Spezialveranstaltungen wie die Darmstädter Ferienkurse oder die Donaueschinger Musiktage zurück, wo man ungestört ästhetische Diskussionen pflegen konnte. Eine Ghettoisierung, die bis heute nicht überwunden ist, obwohl sich die zeitgenössische Musik mittlerweile stilistisch in viele Richtungen geöffnet hat. Musik darf heute durchaus wieder sinnlich sein, und auch Tonalität ist nicht mehr verpönt. Doch das Trauma sitzt tief.

Die Musiker reagierten begeistert auf Wördehoffs Initiative

Interessant ist dabei, dass, so Wördehoff, alle von ihm direkt angesprochenen Musiker begeistert auf seine Initiative reagiert hätten. Alle hätten Werke in petto gehabt, erzählt er, „als lauerte da ein Überdruck von Stücken, die raus wollten“. Vorbehalte spürte er nur bei Agenturen, von denen einige, so vermutet er, seine Anfrage gar nicht erst an die Musiker weitergeleitet hätten. „Manche Agenten haben Angst vor ihren Künstlern.“ Wördehoff jedenfalls will sein Konzept auch im nächsten Jahr bei den Schlossfestspielen weiterführen. Ob es dann wieder „Ins Ungewisse“ heißen wird, ist ungewiss. Ob es langfristig dazu beitragen kann, die Vorbehalte gegenüber Neuer Musik abzubauen, auch. Doch den Versuch ist es unbedingt wert.