Mit Anton Bruckners neunter Sinfonie, Maurice Ravels Klavierkonzert und einer Festrede zum Festivalmotto „Ins Ungewisse“ sind die Schlossfestspiele eröffnet worden.

Ludwigsburg - Es kann sich nur um einen Systemfehler handeln. Die Zuschauerreihen im Ludwigsburger Forum am Schlosspark sind dicht besetzt, das Orchester auf der Bühne macht keinen Mucks, und am Rednerpult steht, wie seit langem unter der Intendanz von Thomas Wördehoff, ein Mensch, der staunend von außen auf die Klangkunst blickt. Im Falle des ehemaligen Verlegers und (ebenfalls ehemaligen) Gin-Destillateurs Christoph Keller kokettiert er, nachdem er die offiziellen Honneurs ebenfalls noch hat verlesen müssen, ein bisschen mit seinem Fremdsein in der Materie, aber es ist ein nettes Kokettieren, wenn der „Schnapsbrenner von einem kleinen Bauernhof am Bodensee“ (Keller über Keller) laut darüber nachdenkt, warum ausgerechnet ihm die Ehre der Ludwigsburger Festrede zuteil wird.

 

Ja, es kann sich wirklich nur um einen Systemfehler handeln. Oder? Zwar gilt der zweimalige Berufswechsler als Experte für jenes Ungewisse, das die diesjährigen Schlossfestspiele zu ihrem Motto gewählt haben. Grundsätzlich aber bietet ja kaum eine Veranstaltung so Erwartbares wie ein in festen Formaten präsentiertes Sinfoniekonzert. Und dass der Auftakt-Abend der Schlossfestspiele mit einem Stück (Messiaens „Les offrandes oubliées“) beginnt, das – Überraschung! – nicht im Programmheft steht, ist kaum mehr als ein kleines dramaturgisches Feigenblatt. Aber das Unerwartete ist immerhin genau das, was Thomas Wördehoff in seinen Programmen sucht – und schon oft vor allem dort gefunden hat, wo sich Unterschiedliches aneinander reibt und wo sich die Klassik auf ihre volksmusikalischen Wurzeln besinnt.

Probieren geht über Studieren

Dabei bricht Christoph Keller eine Lanze zuallererst für jenes Ungewisse, das jeder in sich selbst freisetzen kann: indem er sich auf etwas einlässt, ohne den Verstand dazwischenzuschalten. Das Tier, sagt er, kenne ausschließlich das Ungewisse, nur im „Rückzug auf den eigenen Primatenkern“ lasse sich die Angst besiegen. Lassen wir einmal den Genuss beiseite, den ein mit Verstand und Wissen unterfüttertes Musikhören bereiten kann, so hat Kellers Forderung der kontextfreien Erfahrung („Probieren geht über Studieren“) durchaus etwas für sich. Und Pietari Inkinen dirigiert das Festspielorchester auch just so, als habe er die Forderung des Festredners tief verinnerlicht: mit einem Fokus auf Atmosphäre und Erleben, der den Zuhörern die innere Öffnung leicht macht.

In seinem Klavierkonzert, das die Faszination für George Gershwin und den Jazz nicht leugnen kann, ist Maurice Ravel ebenfalls ganz weit und durchlässig. Vielsträngig verbindet sich das Werk mit Früherem und Späterem in der Musikgeschichte, und was der Pianist Bertrand Chamayou im Mittelsatz an Anschlagsdifferenzierung und klangfarblicher Ausarbeitung schuldig bleibt, macht er in den virtuosen Ecksätzen wett. Klingende Feinkost ist das insgesamt nicht, wohl aber wirkungsvoll serviert.

Eher grob gehobelt als fein gefeilt

Bruckners (unvollendete) neunte Sinfonie schließlich wird unter Pietari Inkinen trotz der einerseits wenig durchhörbaren, andererseits das Schrille und Laute vor allem der Bläser grell verstärkenden Akustik des Forums ein Stück des physisch spürbaren Nachvollzugs. Die letzte Präzision und Koordination im Detail bleibt die bunte Musiker-Melange des Festspielorchesters bei manchen Einsätzen, in manchen Passagen schuldig, und an etlichen Kontrasten hat der Dirigent eher grob gehobelt denn fein gefeilt. Aber zumal die Streicherphrasen wirken genau modelliert, und der Charakter des Stücks ist bis hin zu dem erlösungssehnsüchtigen Nonensprung des Adagio-Beginns präzise getroffen: Packend ringt hier ein alter Mensch so lange um Versöhnung und inneren Frieden, bis sich alles Wilde und Laute verflüchtigt. Der Rest ist ungewiss.