Der Aufstieg der Stadt Ludwigsburg ist untrennbar mit der Kaffeefabrik verbunden – jetzt endet die Geschichte des Traditionsstandorts. Völlig überraschend hat Nestlé entschieden, die Produktion nach Portugal zu verlagern.

Ludwigsburg - Der besondere Geruch gehört zu Ludwigsburg wie das Residenzschloss und das tägliche Verkehrschaos – und das schon seit 150 Jahren. So lange schon wird auf dem riesigen Areal auf der Westseite der Gleise am Bahnhof Röstkaffee produziert, und an manchen Tagen wabern die Aromen bis in die Innenstadt. Manchen hat das genervt, aber es ist anzunehmen, dass viele den besonderen Zichorienduft bald vermissen werden. Um 14.58 Uhr landet die Mitteilung am Dienstag in den Postfächern der Redaktionen, der Absender: die Nestlé Deutschland AG. Der Inhalt hat es in sich: „Nach einer intensiven Überprüfung und Abwägung der Situation hat Nestlé entschieden, die Planung zur Schließung des Werks in Ludwigsburg zum Jahresende 2018 aufzunehmen.“

 

Einen exakten Termin gibt es demnach noch nicht, aber damit steht fest: Eine der traditionsreichsten Fabriken in Ludwigsburg wird geschlossen, rund 100 Mitarbeiter sind betroffen. Die Belegschaft wurde eine Stunde, bevor die Mail verschickt wurde, über den Schritt informiert. Abgezeichnet hat sich das Aus nicht. Zwar kursierten Anfang 2017 entsprechende Gerüchte, doch Nestlé dementierte damals vehement. „Das ist nicht geplant“, sagte der Werksleiter Thomas Mathar. Im Gegenteil: Man wolle die Produktion wieder nach oben fahren. Schon da war klar, dass Ende 2017 ein Nestlé-Werk in Mainz geschlossen wird. Das dort wegfallende Volumen sollte fortan in Ludwigsburg gestemmt werden.

Keine Details zum Sinneswandel

Jetzt kommt es anders, und so richtig vermag Nestlé den Sinneswandel nicht zu erklären. In Ludwigsburg seien „gewisse Arbeiten, die in Mainz nicht mehr durchgeführt werden konnten, fertig gestellt worden“, erklärt die Pressestelle in Frankfurt am Main. „Aber es war klar, dass das zeitlich beschränkt und endlich ist.“ Man habe für das Werk in Ludwigsburg schlicht keine Perspektive mehr gesehen.

Seit Jahrzehnten wird dort überwiegend Caro-Kaffee hergestellt, ein löslicher Ersatzkaffee aus Getreide. Aufgrund der veränderten Konsumgewohnheiten steige in Deutschland zwar die Nachfrage nach Kaffee und Kaffeemischgetränken, aber der Markt für Caro werde kleiner, so Nestlé. Die Folge: „Das Werk war längst nicht mehr ausgelastet.“

Die Marke Caro soll gerettet werden

Die Marke Caro soll trotzdem gerettet werden. In einer Mitarbeiterversammlung am Dienstag wurde erklärt, dass die Produktion nach Portugal verlagert wird. „Wir bedauern das zutiefst“, sagt der Ludwigsburger Oberbürgermeister Werner Spec. Damit ende die stolze Geschichte eines Unternehmens, das im 19. Jahrhundert dazu beigetragen habe, „dass Ludwigsburg wirtschaftlich und sozial wachsen und sich entwickeln konnte“.

Die Hauptleidtragenden sind die Mitarbeiter, für die nun, so steht es in der Mitteilung, „sozialverträgliche Lösungen auf Basis eines Sozialplans gesucht“ werden. „Die beinhaltet auch die Prüfung von Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Nestlé-Standorten.“ Alexander Knoch, der Vorstand Technik der Nestlé AG, versichert: „Wir werden diese Maßnahmen verantwortungsvoll umsetzen.“

Beruhigen wird das Mitarbeiter, von denen viele seit Jahrzehnten in der Ludwigsburger Fabrik arbeiten, wohl nicht. Nestlé ist mit 413 Fabriken der größte Nahrungsproduzent des Planeten, aber nur zwölf davon befinden sich in Deutschland, am wenigsten weit entfernt sind die Standorte im rheinhessischen Osthofen und in Singen im südlichen Baden-Württemberg. Entsprechend düster ist die Atmosphäre auf dem Werksgelände. „Damit hat niemand gerechnet, die Leute sind total gefrustet“, sagt Hartmut Zacher, der als Regional-Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) an der kurzfristig anberaumten Mitarbeiterversammlung teilnahm. „Es ist ja nicht so, dass es Nestlé schlecht geht. Es geht hier um die Steigerung der Rendite durch Personalabbau.“ Das Argument, das Werk sei „unterausgelastet“, lässt er nicht gelten. „Dagegen hätte man ja etwas tun können. Hat man aber nicht.“

Das Gelände soll verkauft werden

Kalt erwischt hat die Nachricht auch Azra Kajić. „Ich bin noch in der Schockstarre und habe es noch nicht richtig realisiert“, sagt die 44-Jährige, die seit 23 Jahren in der Elektroabteilung des Werks arbeitet. „Wie soll ich das meinen beiden Kindern erklären?“ Immer sei sie stolz gewesen, bei Nestlé zu arbeiten, doch nun fühle sie sich hintergangen. Anlagenfahrer Thomas Göbbels arbeitet sogar schon 32 Jahre lang am Standort Ludwigsburg. „Ich habe gehofft, dass ich die 40 Jahre noch voll kriege“, sagt er und fragt sich, ob und wo er nun noch einmal eine Arbeit findet. Auch der 32-jährige Schichtleiter Jochen Amos ist fassungslos. „Wir fahren seit Monaten Top-Leistungen, unsere Kennzahlen sind super, dafür gab es auch immer Lob“, erzählt er und schluckt schwer, weil all das plötzlich nicht mehr zählen soll.

Während auf die Mitarbeiter also eine ungewisse Zukunft wartet, könnte das Ende der Fabrik der Stadtverwaltung sogar Vorteile bringen. Diese plant, den Bahnhof um eine zweite Unterführung zu ergänzen, um die Pendlerströme besser kanalisieren zu können. Wegen dieses Projekts hat das Rathaus lange mit Nestlé verhandelt, denn auf der Westseite würde der Tunnel mitten auf dem Firmenareal enden – äußerst problematisch, solange dort gearbeitet wird. Jetzt könnte der Weg frei werden. Das Unternehmen hat am Dienstag angekündigt, dass es das Gelände verkaufen möchte. „Wir stehen in Kontakt mit der Stadtverwaltung wegen der künftigen Nutzung“, bestätigt die Pressestelle.

Filetstück für die Weststadt-Entwicklung

Auch auf die weitere Entwicklung der Weststadt wird der Weggang von Nestlé Einfluss haben. Bekanntlich ist geplant, das Gewerbegebiet westlich des Bahnhofs sukzessive in einen Standort für Kreative, Start-ups und Technologiefirmen zu verwandeln. Das Nestlé-Grundstück gilt als Filetstück und umfasst 21 000 Quadratmeter, so viel wie fünf Fußballfelder. „Dass sich hier ein Industrieunternehmen zurückzieht und Platz für etwas Neues macht, kommt der Verwaltung sicher entgegen“, sagt ein Insider. „Auch wenn das im Rathaus niemand öffentlich zugeben wird.“

Das Ende eines Traditionsstandorts

Muckefuck Ersatzkaffee wird im Volksmund auch Muckefuck genannt – angelehnt an den französischen Begriff „mocca faux“, was so viel wie „falscher Kaffee“ bedeutet. Die Geschichte reicht zurück bis in die Zeit Friedrichs des Großen. Bohnenkaffee war damals so teuer, dass der Unternehmer Johann Heinrich Franck nach Ersatz suchte. Aus Frankreich hatte er ein Rezept für Zichorienkaffee mitgebracht, die Pflanze ist auch als Gemeine Wegwarte bekannt. 1828 baute er eine Fabrik in Vaihingen/Enz, 40 Jahre später wurden Produktion und Zichorienanbau nach Ludwigsburg verlegt – am Bahnhof befanden sich damals riesige Plantagen. 1954 wurde mit der Produktion von Caro-Kaffee begonnen, dem ersten löslichen Landkaffee.

Nestlé Nach mehreren Namensänderungen und Fusionen gehört die Fabrik seit dem Jahr 1971 zum Nestlé-Konzern, dem größten Nahrungsmittelproduzenten der Welt. Mit rund 100 Mitarbeitern ist es eines der kleineren Nestlé-Werke. Neben Caro wird dort speziell für den italienischen Markt Orzoro produziert, ein Kaffee, der allein aus Gerste besteht. ker/tim