Am 4. Dezember ist es 70 Jahre her, dass britische Bomber Heilbronn in Schutt und Asche legten. 6500 Menschen starben, darunter 1000 Kinder. Noch gibt es in der Stadt Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen teilen können.

Heilbronn - Hans-Jörg Eiding ist Pfarrer an der Kilianskirche in Heilbronn. Er sagt, er habe es außer von Dresden sonst von keiner Stadt erlebt, dass sich ihre Zerstörung so tief ins Bewusstsein ihrer Bevölkerung eingeprägt habe und eine intensive Erinnerung daran am Leben geblieben ist. Das ist treffend beobachtet. Der 4. Dezember 1944, als britische Flieger die Stadt bombardierten, jährt sich zum 70. Mal. Neben dem traditionellen Gedenken für die 6500 Toten auf dem Ehrenfriedhof, wo die meisten von ihnen begraben liegen, wird es dieses Mal auch neue Formen der Erinnerung geben – unter anderem mit Schülern und vielen Zeitzeugenberichten. Nach zwei Generationen sei es an der Zeit, auch an diesem Datum nicht zu vergessen, dass Heilbronn eine tiefbraune Geschichte hat. Ob Harry Mergel sagt dazu: „In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die historische Einordnung des Geschehens ebenso verändert wie die in unserer Stadt gepflegte Erinnerungskultur.“

 

Das Codewort für die Zerstörung Heilbronns durch die Bomber der Britischen Royal Airforce hieß „Sawfish“ (Sägefisch). Wie sehr sich Geschichte aus Geschichten zusammensetzt, das zeigt sich auch in Heilbronn – die Stadt ist noch immer voll davon, aber bald wird sie keiner mehr erzählen. Diejenigen, die noch eine aussagekräftige Erinnerung haben, sind jetzt um die 80 Jahre alt. Als Kinder sind sie nie gefragt worden, zu lange war der Fokus auf die Opfer gerichtet, auf die Soldatenväter und die Mütter, dabei waren sie vielleicht diejenigen, die die tiefsten Narben davontrugen. Viele von ihnen haben ihre Erinnerungen für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben, und viele haben die gleichen Bilder im Kopf – etwa, wie die verkohlten Leichen nicht nur aufgeschichtet wurden, sondern auch an Häuserwände und Bäume gelehnt die Straßen säumten.

Der einzige Gedanke: „Jetzt ist alles zu Ende“

Eine von ihnen ist Margarethe Weeber. Sie ist 84 Jahre alt, 1944 absolvierte die Gärtnerstochter gerade ihr Pflichtjahr, sie war auf dem Heimweg, als um 19 Uhr die Sirenen zu heulen begannen. Ihre Aufzeichnungen über das Geschehen wird sie auch im Gedenkgottesdienst am 7. Dezember in der Kilianskirche vorlesen. In einfachen Worten, dafür umso eindringlicher, schildert sie, wie sie mit ihrer Mutter und Schwester und 30 anderen den Angriff im Luftschutzkeller des Hauses erlebte, das Schweigen, nur unterbrochen vom Auf- und Zuschlagen der Eisentür, ausgelöst vom Luftdruck bei jedem Bombeneinschlag. Dann der einzige Gedanke, als man die brennende Stadt und das zerstörte Elternhaus sah: „Jetzt ist alles zu Ende“. Ihr Vater, der es abends nicht mehr nach Hause geschafft hatte, kam am Morgen mit dem Spaten heim, weil er dachte, er müsse seine Familie ausgraben. Fast 30 Angehörige hat Margarethe Weeber an dem Tag verloren: „Wir konnten nicht mal weinen, wir haben es einfach hingenommen.“

Hans Müller (geboren 1936), war von 1971 bis 1989 Leiter des Sozial- und Jugendamtes in Heilbronn. Er schafft es bis heute nicht, an den Ritualen der Erinnerung teilzunehmen – und findet immer noch keinen plausiblen Grund dafür. „Ich schlag’ euch die Beine ab“, habe seine Mutter ihren Kindern am 5. Dezember gedroht, „wenn ihr in die Stadt geht!“ Sie wollte ihnen den Anblick ersparen. Er erinnert sich, wie er „völlig angstfrei“ mit Befremden auf eine betende Frau im Luftschutzkeller reagiert habe und wie man die Leichen an den Füßen aus den Kellerfenstern gezogen habe.

Das Bild des weinenden Onkels ist allgegenwärtig

Heute setzt sich Müller aktiv für Integration ein und führt Besucher durchs Haus der Stadtgeschichte, wo die Zerstörung der Stadt dokumentiert ist. Jungen Gästen erklärt er den 4. Dezember am Schicksal eines einzigen Hauses und seiner Bewohner, die er alle kannte und von denen keiner überlebt hat. Müller gehört zu denen, die sich fragen: „Trägst Du Schuld? Wir können nicht aus der Geschichte heraus und nur über Goethe reden!“ Spätestens jetzt, wo es nur noch wenige Überlebende gebe, sei es an der Zeit, dass auch das Publikum bei den Gedenkveranstaltungen wechsle, dass man neue Formen finde auch für junge Leute, meint Müller.

Seit der Schlossermeister Adolf Klett (Jahrgang 1936) im Ruhestand ist, reist er bis in die Mongolei und noch weiter. In Heilbronn gibt es viele Spuren seiner Arbeit, die seiner Erinnerung führt gleich im Hausflur zu einem Bild. Der Hobbymaler hat darauf seine Flucht aus dem brennenden Heilbronn festgehalten, den Sog des Feuersturms. Seine Mutter hat die Kriegserlebnisse so schlecht verkraftet, dass er und sein Bruder von den Großeltern aufgezogen wurden. Wenn er das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“hört, dann laufen die Tränen. Damals konnte er nicht weinen, aber allgegenwärtig ist ihm das Bild seines Onkels, der auf einem Trümmerhaufen sitzend weint, neben ihm liegen in einer Badewanne sechs Babyleichen. Es wird ihm gesagt, welche sein Bäsle ist. Auch Müller hat seine Erlebnisse aufgeschrieben.

Der Vater rettete den Kanarienvogel und den Hund

Doch es gibt auch schöne Geschichten: zum Beispiel die von Kahns Kanarienvogel, die Helmut Kohfink (geboren 1934) erzählt. Zu den Nachbarn in der Badstraße gehörte auch Anselm Kahn, der 1957 in New York starb und unter anderem von 1929 bis 1934 israelitischer Kirchenvorsteher war. Kahn besaß zusammen mit seinen Brüdern die Zigarrenfabrik „Helbrunna“, die in der Nazizeit arisiert wurde. Als Kohfinks Vater ihn eindringlich warnte, fragte er ihn, ob er dann für Hund, Kanarienvogel und das Aquarium sorgen würde. Nicht viel später stand morgens die kleine Menagerie vor der Haustür der Kohfinks. Als am 4. Dezember auch dieses Haus bombardiert wurde, rettete sich die Familie vorm Erstickungstod im Keller in den weitläufigen Garten. Die ersten, die der Vater aus dem brennenden Haus holte, waren der Kanarienvogel und der Hund. „Und nach dem Angriff war alles vorbei“, sagt Kohfink und meint damit auch seine Kindheit, „das Leben mit Freunden und Nachbarn“.

Übereinstimmend sagen alle Zeitzeugen, dass das Thema Politik in ihren Elternhäusern tabu gewesen sei, erst recht in den Nachkriegsjahren. Die Überlebenden haben eine Haltung zu dem Tag entwickelt, die sich sehr von der ihrer Eltern unterscheidet. Die Trauer blieb zwar stets abrufbereit, von Hass auf die Engländer ist aber nichts zu spüren – dafür viel Verwunderung darüber, wie es zu diesem Krieg kommen konnte.

Der Angriff dauerte 37 Minuten

Der Angriff auf Heilbronn am 4. Dezember, begann nach britischen Aufzeichnungen nach einer „Markierungsphase“ um 19.29 und war um 19.38 Uhr beendet. Er war generalstabsmäßig geplant und in insgesamt 37 Minuten durchgeführt, Historiker vermuten hier die „Generalprobe“ für Dresden, wo die Bombardierung vom gleichen Stab („Group 5“ mit 350 Flugzeugen) nach dem gleichen Muster und unter anderem mit dem Ziel eines Feuersturms durchgeführt wurde. Insgesamt fielen 830 500 Kilo Sprengbomben und 430 300 Kilo Brand- und Markierungsbomben auf die Stadt. Heilbronn hatte zu dieser Zeit 77 000 Einwohner, 6500 Menschen, darunter 1000 Kinder, starben bei dem Angriff, fast die ganze Innenstadt wurde zerstört. Zur 70. Wiederkehr des 4. Dezember 1944 wurde das längst vergriffene Buch „Heilbronn 1944/1945 – Leben und Sterben einer Stadt“ überarbeitet und wieder aufgelegt. Auf fast 250 Seiten wird dargestellt, wie der Angriff auf Heilbronn verlief. Die Autoren sind Hubert Bläsi und Christhard Schrenk. Das Buch ist über das Stadtarchiv Heilbronn erhältlich