Als Kind besuchte Wilfried Harthan mit seiner Mutter die Ruinen ihres Elternhauses im Stuttgarter Westen. Die Tränen seiner Mutter begriff er erst viele Jahre später und begab sich auf die Suche nach den Spuren seiner Großeltern.

Stuttgart – - Als Kind besuchte Wilfried Harthan mit seiner Mutter die Ruinen deren Elternhauses im Stuttgarter Westen. Die Tränen seiner Mutter begriff der heute 63-Jährige erst viele Jahre später und begab sich auf eine Suche nach den Spuren seiner Großeltern.
Herr Harthan, vor siebzig Jahren wurde Stuttgart bei einer Serie von Luftangriffen schwer zerstört. Was geschah damals mit Ihrer Familie?
Der 63-jährige Wilfried Harthan lebt heute in Dortmund. Foto: privat
Wilfried Harthan: Meine Großeltern hatten in der Traubenstraße 1 im Stuttgarter Westen eine Bäckerei. Im Keller unter dem Gebäude überlebten sie die große Angriffsserie im Juli 1944. Meine Großmutter hat ihre Eindrücke von der Bombardierung in einem Brief noch detailliert geschildert. Beim nächsten Großangriff im September 1944, der den Stuttgarter Westen besonders schwer traf, kamen meine Großeltern und ihr Schwiegersohn dann ums Leben.
Die Geschichte Ihrer Großeltern liegt 70 Jahre zurück. Warum beschäftigt Sie ihr Schicksal noch immer?
Ich kenne die Geschichte zwar nur vom Hörensagen. Über die Trauer meiner Mutter hat sie aber indirekt stark auf mich gewirkt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als kleiner Junge mit ihr das Grab meiner Großeltern besuchte, wo sie heftig weinte. Diese große Trauer meiner Mutter hat mich sehr beeindruckt. Ich kannte sie ansonsten als eine starke und beschützende Frau. Was genau damals passiert ist, habe ich aber erst als Erwachsener erfahren. Da realisierte ich erst die ganze Tragik der Geschichte.
Inwiefern war sie tragisch?
Zunächst einmal schrieb meine Großmutter nach den Juli-Angriffen in einem Brief an ihre Familie den Satz: „Noch so einen Angriff überleben wir nicht.“ Die Gefahr war ihr bewusst, aber trotzdem wollte sie nicht aus Stuttgart fort. Ich mutmaße, dass mein Großvater als Bäckermeister die Stadt nicht einfach verlassen durfte und sie wollte ihn nicht alleine lassen. Die Bäckerei Wagner war damals die einzige Bäckerei zwischen Hauptbahnhof und Doggenburg, die noch Brot backen konnte. Den nächsten großen Angriff überlebten meine Großeltern dann tatsächlich nicht.

Hier geht es zur Multimedia-Reportage über die Luftangriffe 1944 in Stuttgart , in der auch das Schicksal der Bäckersfamilie Wagner behandelt wird.

 
Auch ihr Onkel spielte eine traurige Rolle in der Nacht, in der Ihre Großeltern starben.
Ja, bei dem schweren Angriff im September 1944 waren meine Großeltern nicht allein im Keller: Ihr Sohn Willes und ihre Tochter Emi mit ihrer fünf Monate alten Tochter Helgard und ihrem Ehemann Hermann waren bei ihnen. Willes bekam während der Angriffe plötzlich ein ungutes Gefühl und drängte darauf, den Keller zu verlassen. Aber ein älterer Luftschutzwart stellte sich ihm in den Weg und sagte: „Nein, es gab noch keine Entwarnung.“ Da schnappte sich Willes kurzerhand das Körbchen, in dem seine kleine Nichte lag, und verließ mit ihr den Keller. Seine Schwester Emi folgte ihm. Nachdem er die beiden in Sicherheit gebracht hatte, wollte er zurück kommen, um auch seine Eltern und seinen Schwager zu holen. Aber da brannte es rund um die Bäckerei schon lichterloh. Jahre später sagte er noch mit ganz tonloser Stimme: „Ich bin einfach nicht mehr durchgekommen.“ Als er sich am nächsten Morgen zur Bäckerei durchschlagen konnte, fand er seine Eltern und seinen Schwager tot. Sie sind infolge der schweren Brände wohl an einer Gasvergiftung gestorben.
Wie sind ihr Onkel Willes und ihre Tante Emi später mit diesen Erinnerungen umgegangen?
Mein Onkel hat mir diese Geschichte eines Tages erzählt. Aber meine Tante Emi hat nie über diese Nacht, in der sie ja neben ihren Eltern auch ihren Ehemann verloren hat, gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Tochter Helgard. Zu ihrem 90. Geburtstag fragte der Pfarrer sie, was das wichtigste Ereignis ihres Lebens gewesen sei. Da sagte sie nur: „Die Nacht.“ Nur diese zwei Worte, mehr sagte sie nicht. Sie musste diese Erinnerung vermutlich wegschließen, um weiterleben zu können. Diese Reaktion teilte sie bestimmt mit vielen Menschen, die solche Kriegssituationen überlebt haben.
Wann waren Sie das erste Mal auf dem Grundstück der Bäckerei im Stuttgarter Westen?
Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich und meinen Bruder einmal mit dorthin genommen hat. Ich fand es natürlich total spannend, über die Ruinen zu klettern. Zwischen dem Schutt entdeckte ich kleine blaue Kacheln und steckte einige davon ein. Als ich sie später meiner Mutter zeigte, sind ihr die Tränen übers Gesicht gelaufen, das habe ich nicht verstanden. Mit diesen blauen Kacheln war die Bäckerei damals gefliest. Ich habe eine davon bis heute aufgehoben, sie liegt auf meinem Schreibtisch.
Inzwischen wohnen Sie in Dortmund, beschäftigen sich aber weiter mit dem Grundstück der Bäckerei.
Ja, ich bin später als Erwachsener zu dem Grundstück zurückgekehrt, konnte dort aber nichts wiedererkennen. Die ganze Straßenführung der Traubenstraße ist ja geändert worden. Sie beginnt heute mit der Nummer sechs und mündet nicht mehr wie früher in die Hegelstraße, sondern in die Seidenstraße. Dann habe ich aber mit Hilfe historischer Stadtpläne festgestellt, dass das Grundstück der Bäckerei noch immer unberührt ist. Da ist eine unbebaute Fläche in der Hegelstraße, auf der inzwischen ein kleines Wäldchen gewachsen ist. Und darunter liegen die Ruinen der Bäckerei. Diesem kleinen Teil des Stuttgarter Westens fühle ich mich bis heute sehr verbunden.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus der Geschichte Ihrer Großeltern?
Für mich ist ganz wichtig, festzustellen: Die Städte der anderen haben zuerst gebrannt. Wenn einem das klar ist, dann ist auch die Zuwendung zur Geschichte der Flächenbombardements mit dem unendlichen Leid für die deutsche Bevölkerung in Ordnung. Wenn das aber nur für eine Sekunde vergessen wird, dann kommt da eine Schieflage rein – damit kann ich ganz schlecht umgehen.
Inzwischen gibt es ja Pläne dafür, das Grundstück in der Traubenstraße zu bebauen.
Es ist ja eigenartig, dass das nicht schon viel früher passiert ist, bei dieser guten Lage des Grundstücks. Das ist dann auch in Ordnung für mich. Aber eine kleinen Wunsch habe ich noch: Ich wäre gerne dabei, wenn die Bagger dort den Aushub machen und das Kellergewölbe freilegen. Das ist eine vielleicht etwas romantische Vorstellung von mir.
Das Schicksal der Familie Wagner ist Teil der großen Multimedia-Reportage der Stuttgarter Zeitung zu den Luftangriffen auf Stuttgart während des Zweiten Weltkriegs. Zur Reportage geht es hier.