Eine neue Studie stuft die Luft in Deutschland als besonders dreckig ein. Nach Berechnungen des ICCT waren 2015 in Deutschland 13 000 vorzeitige Todesfälle zurückzuführen. Doch wie sind die Zahlen zu interpretieren?

Wissen/Gesundheit: Werner Ludwig (lud)

Stuttgart - Während in Stuttgart und anderen Städten gegen Dieselfahrverbote demonstriert wird, legt die Forschungsorganisation ICCT (International Council on Clean Transportation) neue Zahlen zu den gesundheitlichen Folgen von Luftschadstoffen vor. Demnach sterben in Deutschland – bezogen auf die Einwohnerzahl – mehr Menschen an verkehrsbedingten Emissionen als in China oder Indien. Und insbesondere Stuttgart schneidet schlecht ab.

 

Was steht in der neuen Studie?

Nach Berechnungen des ICCT waren 2015 in Deutschland 13 000 vorzeitige Todesfälle auf die Belastung durch Feinstaub und Ozon aus dem Verkehrssektor zurückzuführen. Die Gesamtzahl der durch diese beiden Schadstoffe hierzulande bedingten Todesfälle beziffert die Organisation auf 43 000. Sie liegt damit in einer ähnlichen Größenordnung wie in einer früheren Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes. Dort werden für den Zeitraum 2007 bis 2015 rund 45 000 vorzeitige Todesfälle im Jahr angegeben – allerdings nur durch Feinstaub.

Wie schneidet Deutschland ab?

Laut der Studie hatte Deutschland 2015 die weltweit vierthöchste Zahl vorzeitiger Todesfälle durch die verkehrsbedingte Feinstaub- und Ozonbelastung. Höhere Zahlen werden nur für China, Indien und die USA angegeben. Bezieht man die Zahl der Todesfälle auf die Einwohnerzahl, weise Deutschland „die höchste mit Abgasemissionen aus dem Verkehr verbundene Sterberate aller großen Volkswirtschaften“ auf. Drei der sechs Städte mit der höchsten Sterbequote durch Autoabgase liegen laut ICCT in Deutschland: Stuttgart, Köln und Berlin.

Welche Rolle spielt Stickstoffdioxid?

Auffällig ist, dass der ICCT den Schwerpunkt auf Feinstaub und Ozon legt. Stickstoffdioxid (NO2), mit dessen erhöhten Messwerten in Stuttgart und anderen Städten Dieselfahrverbote begründet werden, spielt in der aktuellen Studie eine Nebenrolle. Das deckt sich mit der Einschätzung der meisten Umweltmediziner, die Feinstaub für weit gefährlicher halten als NO2. Das Gas eigne sich aber dennoch als Indikator für die Belastung mit verkehrsbedingten Schadstoffen, argumentieren sie. Der ICCT weist zudem darauf hin, dass NO2 auch eine wichtige Vorläufersubstanz für sogenannten sekundären Feinstaub und Ozon sei.

Woher kommen die Zahlen?

Die Zahlen beruhen auf epidemiologischen Studien, in denen das Auftreten bestimmter Krankheiten und Todesursachen in unterschiedlich belasteten Personengruppen verglichen wird – etwa bei Anwohnern stark befahrener Straßen und den Bewohnern verkehrsarmer Gebiete. Solche Studien waren zuletzt in die Kritik geraten – insbesondere seit es die ersten Dieselfahrverbote gibt. Ein Problem ist etwa, dass Menschen, die an Straßen wohnen, einem Gemisch von Schadstoffen ausgesetzt sind. Dies erschwert es, etwa den alleinigen Effekt von NO2 zu ermitteln. Hinzu kommen Störgrößen wie Rauchen, unterschiedliche soziale Schichtung und Lebensgewohnheiten. In Studien werden diese Faktoren so weit wie möglich herausgerechnet.

Wie sind die Zahlen zu interpretieren?

Die Kennzahl „vorzeitige Todesfälle“ gilt auch bei vielen Umweltmedizinern als irreführend, weil sie nicht sagt, wie viel Lebenszeit im Durchschnitt durch die Schadstoffbelastung verloren geht. Dem Mathematiker und Epidemiologen Peter Morfeld ist diese Zahl schon lange ein Dorn im Auge. Der Wissenschaftler aus Köln, der dieser Tage auch in der ARD-Sendung „Plusminus“ zu sehen war, hat dazu mit dem Arbeitsmediziner Thomas Erren einen Fachartikel verfasst. „Wir empfehlen, auf das Konzept der ‚Anzahl vorzeitiger Todesfälle‘ zu verzichten und stattdessen die durch die Exposition verlorene Lebenszeit anzugeben“, heißt es dort. Diese Angabe ist auch im hinteren Teil des ICCT-Berichts zu finden. Demnach gingen 2015 weltweit 74 Millionen Lebensjahre durch Feinstaub und Ozon verloren. Umgerechnet auf 7,4 Milliarden Erdenbürger wären das 3,6 verlorene Tage – im Durchschnitt. Wer erkrankt, kann mehr Lebenszeit einbüßen.

Was sagt das Umweltbundesamt?

Morfeld hatte auch eine Studie für das Umweltbundesamt kritisiert, nach der in Deutschland durch NO2 jedes Jahr 6000 vorzeitige Todesfälle auftreten. Im Schnitt gehen dadurch rund acht Stunden Lebenszeit pro Person verloren. Das Amt sieht die Studie durch Morfeld nicht wiederlegt und will dazu demnächst in einem eigenen Fachartikel Stellung nehmen. „Wir nehmen Kritik an unserer wissenschaftlichen Arbeit immer ernst und überprüfen gewissenhaft die Richtigkeit unserer Schlussfolgerungen“, heißt es bei der Behörde.

Was sagen Verkehrsminister Winfried Hermann und OB Fritz Kuhn?

„Wir kennen diese neue Studie nicht und können die Zahlen und Details nicht bewerten“, sagt Hermann. Klar sei aber: „Wir müssen möglichst rasch dafür sorgen, dass die Luft sauber wird. Wenn möglichst viele Menschen umsteigen auf umwelt- und klimafreundliche Verkehrsmittel wie Busse, Bahnen oder Fahrrad, zu Fuß gehen oder saubere Autos fahren, können wir das erreichen. Hier steht auch die Autoindustrie in der Verantwortung.“ Kuhn lässt wissen, auch die Stadt könne nichts zur Belastbarkeit der Studie sagen. Seit Jahren habe man in Stuttgart aber viel zur Verringerung der Schadstoffbelastung unternommen. Das zeige Wirkung. Am Ziel, die Grenzwerte einzuhalten, sei man aber noch nicht.