Bei den Jubiläumsfeier in der Lutherstadt Wittenberg gibt es einige Buhrufe für Merkel, ansonsten aber bewegende Szenen. Ausgerechnet ein Katholik erhält spontanen Applaus beim zentralen Gottesdienst.

Wittenberg - Mit Festgottesdiensten und einem Festakt im Stadthaus von Wittenberg haben Kirchenführer und die Spitzenpolitiker des Staates am Dienstag den 500sten Jahrestag des Thesenanschlags von Martin Luther gedacht. Erstmals war der Reformationstag bundesweit ein Feiertag. Der Weltveränderer, Kirchenrebell und ehemalige Augustinermönch Luther hatte 1517 den Anstoß für die Reformation gegeben, eines seiner Hauptanliegen war die Kritik am Ablasshandel. Beim zentralen Gottesdienst in der Schlosskirche von Wittenberg gab es einen bewegenden Moment, als der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche von Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm – ziemlich am Ende des Gottesdienst – plötzlich den anwesenden Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, begrüßte.

 

Grüße an den „lieben Papst“ im fernen Rom

Die von Luther angestoßene Reformation hatte bekanntlich zur Spaltung der Kirche in Katholiken und Evangelische geführt. Zuvor hatte Bedford-Strohm den „lieben Papst“ zum Kommen nach Wittenberg eingeladen und für viele „Zeichen der Versöhnung“ während der Reformationsfeierlichkeiten gedankt. Reinhard Marx erhob sich spontan und sagte nur wenige Sätze, erhielt dafür aber überraschend und spontan großen Beifall der 350 geladenen Gäste in der Schlosskirche: „Die Kirche ist älter und größer als die Zerstrittenheit der Konfessionen“, sagte Marx, er wolle das „Versprechen der Christen“ abgeben, gemeinsam „Zeugen der Hoffnung“ für die Welt sein zu wollen.

Als Hoffnungsträger, Weltverbesserer und Befreier ist bei diesem Finale der sogenannten „Lutherdekade“ Martin Luther nochmals gefeiert worden. Der Thesenanschlag von Wittenberg sei ein „Akt der Befreiung“ gewesen, sagte Bedford-Strohm: für den Menschen, für die Kirche und für die Welt. Luther habe den Menschen die Angst genommen, dass sie die von Gott gestellten Aufgaben nicht erfüllen könnten und dass sie sich ihr Seelenheil „verdienen“ müssten. Mit Luther sei eine neue Freiheitslehre in der Kirche entstanden: Der EKD-Ratsvorsitzende spannte den Bogen zur aktuellen Lage. „500 Jahre nach Luther sind wir in einem Land, das mit sich selber ringt.“ Manche fühlten sich „moralisch überfordert“, andere befürchteten „Sicherheiten zu verlieren“. In Anwesenheit von Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sowie den Repräsentanten der anderen Staatsorgane sowie zahlreichen Landespolitikern wie Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) sagte Bedford-Strohm: „Weder Obergrenzen für Flüchtlinge helfen diesem Land noch eine moralische Überheblichkeit.“

Die Kirche hat keine Heldenverehrung betrieben, sagt der EKD-Chef

Das Land brauche vielmehr „neue innere Freiheit, die Kraft, die Ängste zu überwinden und die Liebe zu stärken“. Von der Reformation sei eine „spirituelle Erneuerung“ ausgegangen, die religiösen Erneuerungsimpulse wirkten bis heute nach: Für die Kirche sei in Zukunft das Wichtigste, „dass wir die Liebe selbst ausstrahlen, von der wir sprechen“. Bedford-Strohm sagte, dass die Kirche während der Luther-Dekade keine „Heldenverehrung“ von Luther betrieben, sondern auch auf seine Schattenseiten – Hetze gegen Juden, Intoleranz gegenüber den Wiedertäufern und anderen Gruppen – hingewiesen habe.

Kanzlerin Merkel war vor ihrem Eintreten in die Schlosskirche von rund 500 Menschen freundlich empfangen worden, allerdings störten zwei Dutzend Störer mit den Rufen: „Hau ab, Verräterin, hau ab“ die Stimmung. Nach dem Gottesdienst waren die Merkel-Kritiker verschwunden, Merkel nahm daraufhin gemeinsam mit Bundespräsident Steinmeier ein „Bad in der Menge“, schüttelte Hände und sprach zu den Schaulustigen. In ihrer Festrede im Stadthaus von Wittenberg rühmte Merkel, selbst Pastorentochter, die Rolle des „streitbaren Augustinermönches“. Er habe die Welt fast in allen Bereichen verändert – Religion, Politik, Sprache, Sozialwesen, Kunst und Kultur. Er habe gelehrt, dass man sein Seelenheil „nicht kaufen“ könne, sondern dass der Mensch allein durch die Gnade Gottes und seinen Glauben Gott gerecht werden könne.

Merkel stellt sich schützend vor Religionen

Auch Merkel sprach die negativen Seiten Luthers an, seine „Ausfälle gegen Andersdenkende und Juden“, gleichzeitig sprach sie ihm zu, dass sein auf Freiheit beruhendes Menschenbild ein Baustein der demokratischen Grundordnung von heute gewesen sei. Es habe „einer langen Konfliktgeschichte mit den Religionskriegen“ und eines jahrhundertelangen Lernprozesses bedurft, um zur Toleranz zu finden. „Die Toleranz ist die Seele Europas und das Grundprinzip einer offenen Gesellschaft.“ Merkel sagte, der Staat müsse die Religionsfreiheit schützen, er müsse Religionen auch „vor Geringschätzigkeit“ schützen. Der Staat brauche die Kirchen zur Verteidigung fundamentaler Werte.

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagte in Wittenberg, diesem „Symbolort des Protestantismus“, dass Sachsen-Anhalt in der Luther-Dekade als „weltoffenes Kultur- und Gastland anerkannt“ worden sei. Auch sei Wittenberg stets eine der europäischsten Städte gewesen: Der ebenfalls geladenen Präsident Ungarns, Janos Adar, konnte das bezeugen: Schon 1600 habe die Universität von Wittenberg 1000 ungarische Theologiestudenten angelockt. Die Freiheit des Glaubens sei wichtiger „als jedes Gold“. In die Lutherstadt waren – angezogen von einem mittelalterlichen Markt – einige Zehntausend Menschen zum Luther-Jubiläum gekommen.