„Können Sie sich vorstellen, Lyrik in der Straßenbahn zu plakatieren?“ Mit dieser Frage wandte sich Ursel Hosch aus Botnang, Lehrerin für Französisch und Englisch, vor 25 Jahren an die SSB. „Joa, warum net?“, lautete die Antwort. Seitdem gibt es in Stuttgart die Serie „Lyrik in der Stadtbahn“.

Möhringen – Inspiriert von der Nachricht, dass die Londoner Verkehrsbetriebe ihre Passagiere in der U-Bahn mit Gedichten die Wege versüßen, hat Ursel Hosch aus Botnang vor 25 Jahren zum Hörer gegriffen. „Können Sie sich vorstellen, Lyrik in den Stadtbahnen zu plakatieren?“, hat die einstige Studienrätin für Englisch und Französisch gefragt. „Ja, warum nicht?“, lautete die Antwort der SSB. Seitdem wird für alle, die wollen, eine Stadtbahnfahrt zur Deutschstunde. Für Hosch wurde eine Fahrt gar einmal zur Russischstunde. „Zwei junge Russinnen waren ganz begeistert über ein Puschkin-Gedicht in der Stadtbahn und haben es mir spontan im Original vorgetragen.“
Zugegeben: „Möhringen Bahnhof“ oder Botnang klingen recht prosaisch. Aber welches poetische Potenzial haben die Namen der SSB-Haltestellen in Stuttgart sonst?
Eine gute Frage – darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. Die Idee könnte ich in eine unserer nächsten Sitzungen einbringen.

Sie haben bereits mehrmals thematische Gedichtreihen für die Straßenbahnlyrik zusammengestellt. Als in Stuttgart zur Mittelmeerkonferenz geladen wurde, konnten Pendler Lyrik aus Griechenland, Tunesien und der Türkei lesen – warum haben Sie die Namen der Haltestellen noch nie inspiriert?
Vielleicht deswegen, weil der Leser die Lyrik meistens nicht mit der Haltestelle in Verbindung bringt. Er liest sie ja in der ganzen Stadt, eben dort, wo die Stadtbahn gerade fährt.

Wenn wir Starthilfe leisten dürften: Zur Haltestelle „Landhaus“ könnte „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoffs passen. Zur Haltestelle „Feuerbach“. . .
. . . fällt mir spontan das Gedicht „Das Feuer“ von James Krüss ein: „Hörst du, wie die Flammen flüstern, knicken, knacken, krachen, knistern, wie das Feuer rauscht und saust, brodelt, brutzelt, brennt und braust.“

Warum haben Sie vor 25 Jahren überhaupt bei den SSB angerufen? Hatten Sie an diesem Tag Ihre Lektüre zuhause vergessen?
Nein, ich halte es in der Stadtbahn eigentlich ganz gut ohne Lektüre aus. Ich schaue aus dem Fenster oder denke über irgendetwas nach – oder unterhalte mich mit meinem Nebenmann. Das geht ganz schnell, man lächelt sich an, und schon entspinnt sich ein Gespräch. Da entstehen ganz oft solche Mikrofreundschaften, die dann zwei Haltestellen lang dauern.

Aber warum ausgerechnet Gedichte?
Ich liebe Gedichte und hatte davon gehört, dass man in London Lyrik in der Straßenbahn lesen kann. Das hat mir sofort gefallen. Ich finde es schöner, Lyrik zu lesen, als Werbung.

Mussten Sie bei den SSB stark dafür werben, Lyrik-Plakate statt Werbe-Plakate aufzuhängen?
Überhaupt nicht. Ich hatte bei den SSB in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit angerufen und gefragt, ob man sich vorstellen könne, in der Stadtbahn Lyrik zu veröffentlichen. Und die Antwort am Telefon war: „Ja, warum nicht?“ Man hat mich nicht von vorneherein für verrückt erklärt, ich musste nicht viel Überzeugungsarbeit leisten.

Stattdessen wurden Sie aufgefordert, 20 Gedichte auszusuchen und vorzustellen.
Genau. Heute suche ich pro Jahr 70 Gedichte aus, von denen 15 genommen werden. Dreimal im Jahr wird plakatiert, jeweils fünf neue Gedichte gibt es pro Saison.

Wie frivol darf es in der Stadtbahn sein? Einige Dichter werden ja stellenweise sehr deutlich. Nehmen wir Fausts Werben um Gretchen.
Finden Sie? Im „Faust“ geht es tatsächlich fröhlich zu, aber das ist kein Hinderungsgrund. Tatsächlich ist der Jury jedoch bewusst, dass die Gäste der Stadtbahn in der Öffentlichkeit aufeinander treffen. Wir beachten da bei der Auswahl eine gewisse Diskretion. Alles mit Maßen.

Wie traurig darf es sein?
Schwierig. Wir achten die Maßgabe, dass die Gäste der SSB nicht trauriger aussteigen, als sie eingestiegen sind.

Und was ist mit Reimen à la Heinz Erhardt?
Seine Werke sind mir persönlich oft etwas zu platt. Sie reichen für ein „Hahaha“, aber eben nicht für ein Vierteljahr. Und so lange hängen die Plakate ja in den Bahnen. Deswegen mag ich spröde Gedichte, die sich nicht schnell erschließen. Manche muss man eben öfter lesen, um sie dann auf einmal zu verstehen.

Ist Stuttgart in diesen 25 Jahren poetischer geworden?
Das vermag ich nicht zu sagen. Aber ich finde, es ist ein schöner Gedanken, dass ein junger Mensch von 25 Jahren, wenn er es wollte, von Gedichten begleitet aufgewachsen ist. Wenn das nicht so gewesen wäre, hätte er auch überlebt. Aber so ist sein Leben vielleicht etwas schöner geworden.