Die ägyptische Regierung ruft nach den blutigen Unruhen mit zahlreichen Toten den Notstand aus. Nobelpreisträger Mohammed ElBaradei zieht ebenfalls Konsequenzen und legt sein Amt als Vizepräsident nieder.

Kairo - Nur wenige Freudensalven begleiteten die Nachricht von der gewaltsamen Auflösung der beiden Protestlager gegen die Übergangsregierung. Schon um die Mittagszeit war klar, dass die Fernsehbilder vom Morgen den Anfang einer Gewaltwelle bildeten, die über das Land zieht. Wütende Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi, zum Teil unterstützt von erzkonservativen Salafisten, griffen Polizeistationen an und warfen Brandbomben gegen mehrere koptisch-christliche Kirchen in Oberägypten.

 

In mehreren Städten organisierte die „Allianz zur Unterstützung der Legitimität“, in der sich Pro-Mursi-Kräfte sammeln, Solidaritätskundgebungen. Mancherorts kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei, auch in einigen Stadtteilen Kairos. Der Eisenbahnverkehr nach Norden und nach Süden wurde eingestellt. Die Banken machten ihre Schalter dicht. Auf den Straßen der Megacity war kaum Verkehr. Viele Firmen blieben geschlossen. Strategisch wichtige Orte wie der Flughafen wurden besonders geschützt. Das Kabinett trat zu einer Krisensitzung zusammen; es will an seinem politischen Übergangsfahrplan festhalten. Der Scheich der Al-Azhar-Moschee, der den letzten gescheiterten Vermittlungsversuch unternommen hatte, mahnte, das Blutbad zu beenden.

Die Sicherheitskräfte walzen die Zelte nieder

Um sieben Uhr am Morgen hatten Militärhelikopter über dem Stadtzentrum von Kairo die lang gehegten Befürchtungen zur Gewissheit werden lassen. Die Sicherheitskräfte hatten damit begonnen, die beiden Lager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Rabaa al-Adawiya und auf dem Nahda-Platz vor der Kairoer Universität aufzulösen. Dort fuhren sie mit schweren Bulldozern auf. Sie walzten die Zelte nieder und vertrieben die Menschen mit Tränengas. Die Demonstranten reagierten mit dem Abbrennen von Autoreifen. Nach weniger als zwei Stunden meldeten die staatlichen Medien, der Nahda-Platz sei geräumt. Es habe zahlreiche Verhaftungen gegeben von Demonstranten, die im Besitz von Waffen gewesen seien, meldeten die Behörden, die für diesen Schauplatz 15 Tote und über 170 Verwundete bestätigten. Alle Straßen, die zum Nahda-Platz führen, blieben von Polizei und Militär weiträumig abgeriegelt.

Das Nahda-Camp war zwar das kleinere – jeweils einige Hundert harrten hier über Nacht aus –, aber das strategisch wichtigere, weil es sehr nahe am Stadtzentrum gelegen ist. Die meisten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern hatten in den vergangenen sechs Wochen in dieser Gegend stattgefunden. Zum letzten Mal am Dienstagabend, als die Muslimbrüder in ganz Kairo mehrere Protestzüge veranstaltet hatten. Sie waren vor Ministerien in der Stadtmitte gezogen. Einer ihrer Anhänger war erschossen worden. Diese Strategieänderung könnte der Grund dafür gewesen sein, dass Regierung und Sicherheitskräfte ihre seit Wochen angekündigte Räumungsaktion nun in die Tat umgesetzt haben. Die Vereidigung von neuen Gouverneuren am Dienstag, die wie zu Zeiten des Diktators Mubarak fast ausschließlich aus Militär und Polizei stammen, deutet zudem darauf hin, dass sich in der ägyptischen Übergangsführung jene Kreise durchgesetzt haben, die für eine harte Haltung gegenüber den Islamisten eintreten.

Die Demonstranten wollen nicht freiwillig abziehen

Im Protestcamp Rabaa al-Adawiya im Vorort Nasr City ist die Lage komplizierter. Dort haben sich viele Tausend Mursi-Anhänger seit sechs Wochen eingerichtet. Rabaa al-Adawiya ist zu einer kleinen Stadt geworden, aus der sich die Demonstranten, darunter viele Frauen und Kinder, auch durch Waffengewalt nicht vertreiben ließen. Einpeitscher auf der Bühne schrien: „Wir sind Ägypter, wir sind Muslime, wir sind keine Terroristen, aber die Armee tötet uns.“ Dieses Camp ist die wichtigste Bastion der Muslimbrüder in ihrem Kampf gegen ihre Verdrängung von der Macht. Hier haben sich mehrere jener Führungskader verschanzt, die nach dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten am 3. Juli noch nicht verhaftet wurden.

Das Innenministerium ließ wissen, es gebe Korridore, über die Demonstranten freiwillig den Platz verlassen könnten. Die Demonstranten zeigten aber wenig Bereitschaft dazu. Das sei ein blutiger Versuch, jede Stimme gegen den Militärputsch auszulöschen, twitterte Jihad Haddad, einer der Sprecher der Muslimbrüder. Von „Massaker“ und „Genozid“ sprach Mohammed al-Beltagy, ein Führungsmitglied der Partei der Muslimbrüder. Die Sicherheitskräfte gingen mit großer Brutalität gegen die Demonstranten vor. Es gab viele Tote und Verletzte, deren Zahl sich im allgemeinen Chaos schwer schätzen ließ. Jede Seite veröffentlichte ihre eigenen Bilanzen. Die Muslimbrüder berichteten von Hunderten Toten und Verwundeten. Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP erklärte, er habe in drei Leichenhäusern insgesamt 124 Tote gezählt. Die Ärzte und Helfer in dem notdürftig eingerichteten Feldspital in Rabaa al-Adawiya waren völlig überfordert. Augenzeugen beschrieben eindrücklich den massiven Einsatz von scharfer Munition. Der Übergangspräsident Adli Mansur rief den Notstand aus. Vielerorts wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Das Auswärtige Amt in Berlin aktualisierte seine Reisewarnungen.