Wird Jean-Claude Juncker nun EU-Kommissionschef, oder hat die Kampagne gegen ihn Erfolg? Der Einsatz ist hoch, denn hinter dieser Frage steckt viel mehr: Es geht um Einfluss, europäische Demokratie und die Bedeutung der Nationalstaaten.

Brüssel - Rabbiner, Imame, orthodoxe Priester, Erzbischöfe und evangelische Würdenträger stehen vereint auf der Bühne. Es ist Zeit für das jährliche Treffen der EU-Spitzen mit den religiösen Führern des Kontinents. Aber auch hier entkommt Ratschef Herman Van Rompuy nicht der Frage aller Fragen. Trocken gratuliert der Belgier dem britischen Reporter, dass er eine Verbindung zwischen dem religiösen Treffen und der Suche nach dem nächsten Kommissionschef gefunden hat: „Alle Achtung, eine reife Leistung.“ Neues aber ist Van Rompuy nicht zu entlocken. Sie nennen ihn das „belgische U-Boot“, weil er so schön abtauchen kann.

 

Im Stillen führt er die Gespräche darüber, ob Luxemburgs Ex-Premier Jean-Claude Juncker, der Spitzenkandidat der Christdemokraten, nun den wichtigsten Job in Brüssel bekommt. Bis Ende nächster Woche, wenn der EU-Gipfel einen Personalvorschlag unterbreiten will, dem das Europaparlament dann zustimmen muss, soll Van Rompuy alle Klippen, die mit dieser Frage verknüpft sind, umschifft haben. So lange wird spekuliert, was das Zeug hält.

Die Gerüchteküche brodelt

Selbst die Ukraine oder die Fußball-WM müssen dieser Tage zurückstehen, wenn Brüsseler Abgeordnete, Diplomaten, Journalisten oder Politiker zusammenstehen. Infofetzen machen die Runde, denen jeder seinen Dreh gibt. Beim Abendessen mit den 28 EU-Botschaftern soll Noch-Kommissionschef José Manuel Barroso gesagt haben, es laufe nach der öffentlichen Unterstützung von Angela Merkel auf Juncker hinaus. Die Briten, die ihn verhindern wollen und für eine Sperrminorität die Kanzlerin oder Italiens Ministerpräsidenten in ihr Lager holen müssen, berichten dagegen von Zusagen Merkels am Rande des G-7-Gipfels. In der Brüsseler Residenz des britischen Botschafters habe sie Premier David Cameron versprochen, ihn beim EU-Gipfel nicht zu überstimmen und für einen Konsens zu kämpfen.

Zwangsweise gemeinsam: Merkel und Juncker Foto: dpa

Und nach einer Unterredung Camerons mit Matteo Renzi verkünden Londons Spindoktoren, dieser wolle eine Frau an der Spitze. Genüsslich wird darauf verwiesen, dass Junckers deutscher Wahlkampfmanager Martin Selmayr, den viele schon als Kabinettschef im Berlaymont sahen, gerade bei der Osteuropabank angeheuert hat. „Da“, urteilt also ein britischer Diplomat, „verlässt einer das sinkende Schiff.“

Gesicherte Informationen gibt es aber selbst im Kreis der EU-Botschafter kaum. „Das ist absolute Chefsache. Und ich gehöre nicht zu der sehr kleinen Gruppe von Menschen, die wirklich weiß, was gerade vor sich geht“, räumt einer dieser Botschafter in seinem Büro ein. Wenn sich die „Chefs“ nicht bei EU-, G-7-Gipfeln oder D-Day-Feiern in der Normandie treffen, telefonieren sie oder ihre engsten Mitarbeiter miteinander. Diese Woche reist Van Rompuy zu „Arbeitsgesprächen“ mit Renzi nach Rom. Merkel empfängt Dänemarks hoch gehandelte Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt. „Die wichtigste Akteurin ist wie immer die Kanzlerin, aber sie wurde in eine schwierige Lage gedrängt“, sagt der Botschafter: „Und nun sind wir in Europa dabei, großes Chaos anzurichten.“

Eine vertrackte Partie

Dieser Poker um die Macht in Europa ist vertrackt. Ein für alle gesichtswahrender Ausweg scheint kaum möglich zu sein. „Es gibt nur noch schlechte Lösungen“, sagt einer, der über Van Rompuys Vermittlungsbemühungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie dem Europaparlament Bescheid weiß: „Alle haben die Probleme mit dem Spitzenkandidaten-Prozess kommen sehen, aber niemand hat ihn aufgehalten.“

Werden keine Freunde mehr: Cameron und Juncker Foto: EPA

Auch Angela Merkel nicht, obwohl sie nie eine Freundin der Idee war, dass der von der stärksten Partei Nominierte Kommissionschef werden soll. Aus Berliner Zirkeln wird gar kolportiert, sie sehe die damit verbundene Stärkung von Kommission und Parlament als Versuch, die über die Eurokrisenjahre gewachsene Macht der Kanzlerin zu brechen. Doch Martin Schulz, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten und Präsident das Parlaments, trieb das europäische Demokratisierungsprojekt voran und setzte die Christdemokraten unter Druck, dem Beispiel zu folgen.

Einen einstimmigen Beschluss gab es nie

Anfang März schließlich saß auch Angela Merkel in Dublin auf dem Podium des Parteitags ihrer Europäischen Volkspartei, der Juncker zum Spitzenkandidaten kürte. Es war ein politisches Versprechen, das auch andere Staats- und Regierungschefs in ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzende unterstützten. Einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rats zu dem Prozedere aber gab es nie – weil manche Regierungen ein grundsätzliches Problem damit haben, sich die Kandidatenkür vom EU-Parlament aus der Hand nehmen zu lassen. Laut EU-Vertrag sind sie nur dazu verpflichtet, das Ergebnis der Europawahl zu „berücksichtigen“.

Ein Café neben der britischen EU-Vertretung, keine 200 Meter Luftlinie vom Büro des Kommissionschefs entfernt: „Die einzige Botschaft der Wahl, die wir berücksichtigen müssen, ist der Erfolg der Europaskeptiker und die daraus folgende Notwendigkeit europäischer Reformen“, sagt der Gesprächspartner, auch mit Verweis darauf, dass in einigen Ländern die Spitzenkandidaten keine Rolle gespielt haben. „Nun einen Kandidaten zu nehmen, der uns vom Parlament aufgedrückt wird, brächte die institutionelle Balance in der EU durcheinander.“ Ähnlich hat es auch sein Regierungschef gerade in einem Gastbeitrag für mehrere Zeitungen formuliert: „Es würde ohne Zustimmung der Wähler die Macht von den nationalen Regierungen zum Europäischen Parlament hin verlagern.“ Von der Austrittsdrohung, die Cameron kürzlich im Gipfelkreis ausgesprochen hat, ist dort nichts zu lesen gewesen. Der Mann aus seinem diplomatischen Korps in Brüssel wiederholt sie umso bereitwilliger: „Beim Referendum 2017 wäre es für uns viel schwerer, den Wählern die EU als reformierte Institution zu verkaufen, wenn Juncker an ihrer Spitze steht.“

Man könnte die Entscheidung ja auch verschieben

Juncker selbst hat seit der britischen Kampagne gegen ihn Paparazzi in den Bäumen gegenüber seiner Wohnung sitzen, die ihn am liebsten mit Zigarette und Glas in der Hand ablichten würden. Er muss Schlagzeilen wie „Junck the Drunk“ in der „Sunday Times“ ertragen, die ihn als nichtsnutzigen Säufer darstellen. Sein größtes Problem aber ist, dass die Bedenken gegen ihn nicht auf die Briten oder die anderen „Nicht-Spitzenkandidaten-Länder“ wie Schweden oder Ungarn beschränkt sind. Der nächste Gesprächstermin legt das nahe.

Bei strahlendem Sonnenschein sitzt einer, der für die Regierung des proeuropäischen Belgiens arbeitet, bei Bier und Käse am Place du Luxembourg. Er zeigt auf das Gebäude des Europaparlaments, wo sie jeden außer Juncker ablehnen wollen, und sagt: „Die Ansicht, dass das Parlament die einzige demokratische Institution auf EU-Ebene und der Europäische Rat ein antidemokratischer Haufen ist, teilen wir nicht. Das sind gewählte Staats- und Regierungschefs, die ihre Bevölkerung repräsentieren.“ Daher habe sich sein Premier Elio di Rupo bisher nicht für Juncker ausgesprochen, wenngleich er ihn notfalls mittrage. Aber nur zur Not, denn der Luxemburger mache nicht mehr den frischesten Eindruck für den Job an der Spitze der 40 000-Mann-Behörde: „Da kann Juncker nicht wie früher in der Eurogruppe bei einem Gin Tonic an der Bar alles nebenbei klären.“

Es gibt sie, die unverbrüchlichen Juncker-Anhänger. Foto: dpa

Über eines wundert sich der Regierungsvertreter mit Blick auf die vergangenen Wochen. „Die Briten sind eigentlich Weltmeister der Diplomatie. Es war aber ein Riesenfehler von Cameron, so krass Front gegen Juncker zu machen – dadurch hat er Merkel gezwungen, Juncker öffentlich beizuspringen.“ Nun stehe Merkel im Wort, obwohl sie selbst nicht überzeugt sei, ein Ausweg sei schwer. „Es wäre wohl für alle am einfachsten“, resümiert der Diplomat, „wenn Juncker sich zurückzöge.“

Wird weiterhin auf Zeit gespielt werden?

Ein möglicher Ausweg, der im Kanzleramt diskutiert wird, ist die Konzentration darauf, wo es inhaltlich mit Europa hingehen soll. Die Stäbe von Merkels engsten Beratern Nikolaus Meyer-Landrut, Lars-Hendrik Röller und Christoph Heusgen brüten derzeit über Papieren, die den Kurs der Gemeinschaft in den nächsten Jahren bestimmen sollen. So könnte David Cameron überzeugt werden, dass eine Linie verfolgt wird, die ihm passt – mit Juncker.

Was sie in der Willy-Brandt-Straße 1 in 10557 Berlin in Absprache mit SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel diskutieren, landet dann in der Rue de Loi 175 in 1048 Brüssel, wo Herman Van Rompuy residiert. Der überlegt, ein so großes Personalpaket zu schnüren, dass alle irgendwie glücklich werden könnten. Dazu würden nicht nur der Kommissionschef, der nächste Ratspräsident, das Amt des EU-Außenbeauftragten oder der Eurogruppenchef gehören, sondern auch wichtige Kommissarsposten mit den Zuständigkeiten für den Binnenmarkt, den Euro, Energie oder Wettbewerb. „Vielleicht kann er ein wenig belgische Magie herbeizaubern“, sagt ein EU-Diplomat in Anspielung auf die Tradition ausgefeilter Kompromisse zwischen Flamen und Wallonen, „und die richtige Balance von Personalien und Inhalten präsentieren.“

Martin Schulz hat auf jeden Fall gut lachen. Foto: dpa

Das hoffen sie auch in der französischen EU-Vertretung im Herzen von Brüssel. „Eigentlich müsste Cameron einschlagen, weil er jetzt einen hohen Preis für seine Zustimmung zu Juncker aushandeln kann“, meint ein Diplomat vom Quai d’Orsay, „die Frage ist, ob er damit daheim durchkommt.“ Ein Besuch in Frankreichs Dépendance zeigt aber auch, wie schwer gerade eine Verständigung über die Zukunftsaufgaben sein wird. Denn Staatschef François Hollande verlangt – so wie auch sein sozialistischer Kollege Renzi in Italien und die sozialistische EU-Parlamentsfraktion – Entgegenkommen für ein großkoalitionäres Ja zum Christdemokraten Juncker. „Mehr Solidarität und weniger strenge Haushaltsregeln“ nennt der Diplomat und meint Dinge wie Eurobonds oder Konjunkturprogramme – Dinge, bei denen sich Merkel wie Cameron die Haare sträuben.

Was immer bleibt: auf Zeit spielen. Im Sommer könnte noch ein EU-Sondergipfel einberufen oder das Mandat der EU-Kommission noch um ein paar Monate verlängert werden. Das Treffen der Religionsführer mit Van Rompuy und Barroso ist beendet. Vor dem Eingang des Kommissionsgebäudes steht einer der vielen Sprecher der EU-Behörde und erzählt, dass er sich auf eine längere Amtszeit über Oktober hinaus einstellt. Und dann? Auch er hält den Spitzenkandidaten als wahrscheinlichste Option, ist aber nicht eben begeistert: „Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident? Das kann ja heiter werden.“