Die neue Regierung der Ukraine sitzt fest im Sattel. Die Krim-Krise und der drohende Bankrott halten die Lager zusammen. Doch Linke und Rechte, Demokraten und Nationalisten belagern Behörden und wittern ihre Chance.

Kiew - Das Regierungsviertel von Kiew ist besetzt – immer noch. Seit dem Sturz Viktor Janukowitschs stehen rund um das Regierungsgebäude und das Parlament Mitglieder der Samooborona, der „Selbstverteidigungseinheiten“ des Maidan. Sie bewachen die offiziellen Polizisten, die im Inneren der Gebäude für die Sicherheit zuständig sind.

 

Der Maidan zeigt Flagge: Vor dem Parlament ist neben der ukrainischen Flagge die rot-schwarze Flagge der westukrainischen Nationalisten gehisst. Ein paar Meter weiter haben Maidan-Aktivisten einen hölzernen „Pfosten der Wut“ aufgestellt, darauf abgebildet etwa Anna German, Abgeordnete der Partei der Regionen und eine der engsten Vertrauten von Janukowitsch. Ein paar Meter weiter hängt ein Plakat mit den Bildern von 16 Vertretern des Janukowitsch-Regimes. „Schuldig“ steht daneben geschrieben. Die meisten davon sind geflohen, nach Russland oder auf die Krim.

Auf dem Maidan ist gestern wieder demonstriert worden. Foto: EPA

Angst ist der Grund, warum die neue Macht in Kiew sich nach dem Sturz Janukowitschs so schnell durchgesetzt hat, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen, warum Arsenij Jazenjuk vor Kurzem mit 371 von 450 Stimmen zum Premier gewählt wurde, warum die Fraktion der Partei der Regionen, die noch vor wenigen Wochen über fast die Hälfte der Sitze im Parlament verfügte und Janukowitsch bis zum Ende den Rücken stärkte, sich in Auflösung befindet.

„Die Macht hat jetzt die Vaterlandspartei von Timoschenko“, ist der Journalist Sergej Leschtschenko überzeugt. Er ist stellvertretender Chefredakteur der unabhängigen „Ukrainska Prawda“ und seit fast zwei Jahrzehnten auf den Kiewer Fluren der Macht unterwegs. Julia Timoschenko, sagt Leschtschenko, sei in den letzten Wochen bei allen wichtigen Entscheidungen dabei gewesen, ob im Parlament oder in der Regierung – ohne ein politisches Amt.

Derweil versuchen verschiedene Akteure, die Reste der Partei der Regionen zu retten, insbesondere im Hinblick auf Parlamentswahlen, die vermutlich im Herbst stattfinden werden. Die Partei stellt mit 127 Abgeordneten noch immer die größte Fraktion der Rada, und sie verfügt als Schutzmacht für die Interessen der russischsprachigen Bevölkerung insbesondere im Osten des Landes über ein starkes Wählerpotenzial. Obwohl einige Abgeordnete aus Kiew geflohen sind und die Zentrale in Kiew nach einer Attacke mit Molotowcocktails ausgebrannt ist, ist Leschtschenko überzeugt: „Janukowitsch ist zwar weg, aber das Auto ist noch fahrtüchtig.“

Der Regimegegner Chodorkowski besucht den Maidan-Protest. Foto: AFP

Die Regierungspartei war über Jahre von Oligarchen wie Rinat Achmetow und Dmitri Firtasch finanziert worden. Das sicherte ihnen Einfluss. Beide bemühen sich nun, die Kontrolle über die Reste der Partei zu bekommen. Firtasch hat zusammen mit dem früheren Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Ljowotschkin derzeit die Nase vorn: Als neuer politischer Führer wird von ihnen jetzt der Milliardär Sergej Tigipko installiert, der zudem als „Kandidat des Ostens“ bei den Präsidentschaftwahlen im Gespräch ist.

Beobachter räumen Jarosch keine Chancen ein

Am Samstagnachmittag schlägt dann eine – angesichts der Krim-Krise – kleine politische Bombe ein: Dmitri Jarosch, Führer des nationalistischen Rechten Sektors und bislang für radikale Auftritte und nationalistische Rhetorik bekannt, tritt mit Anzug und Krawatte vor die Presse und erklärt, dass auch er bei der Präsidentenwahl antreten werde. Seine Bewegung trete gegen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus und für das Assoziationsabkommen mit der EU ein, erklärt Jarosch den ob des Richtungs- und Stilwechsels verblüfften Journalisten.

Doch Beobachter räumen Jarosch keine Chancen ein. Die wichtigsten Kandidaten heißen Pjotr Poroschenko, Julia Timoschenko und Vitali Klitschko. Der ehemalige Boxer machte sich am Sonntag auf in den Osten des Landes, um auch in Donezk und Charkow für Unterstützung zu werben – dort war seit dem „Sieg des Maidan“ keiner der Oppositionsführer aufgetaucht. Nach einer Umfrage würden derzeit knapp 15 Prozent der Ukrainer für Klitschko stimmen.

In der Ostukraine gibt es wider Prorussische Demonstrationen. Foto: AP

Damit liegt er auf Platz zwei hinter dem Milliardär Pjotr Poroschenko, für den derzeit gut 21 Prozent stimmen würden. Ukrainische Beobachter bestätigen zwar einen Anstieg von Klitschkos Popularität durch seine exponierte Rolle während der Proteste, aber bezweifeln seine Fähigkeit, im Kampf gegen rhetorisch versierte Politprofis wie Poroschenko und Timoschenko zu bestehen. Die ehemalige Premierministerin Timoschenko liegt laut Umfrage momentan bei knapp zehn Prozent der Stimmen. Über die nächsten Tage ist Timoschenko in Berlin, um dort ihr Rückenleiden behandeln zu lassen. Ukrainische Beobachter sind jedoch überzeugt, dass sie danach sofort in den Wahlkampf einsteigen wird. Bis zu den Wahlen am 25. Mai ist noch genug Zeit.

Momentan ist auch die Zentrale Wahlkommission besetzt: Über einem Armeezelt vor dem Zaun weht die Flagge der Spilna Sprawa (Öffentliche Sache), einer radikalen Maidan-Gruppe, die sich schon früher durch die Besetzung von Gebäuden einen Namen gemacht hatte. „Wir versuchen, die Präsidentschaftswahlen zu kontrollieren“, erklärt Wladimir Schkande, der an einem der Tische sitzt. Viel wichtiger seien aber für ihn Parlamentswahlen, so bald wie möglich: „Momentan sieht es doch so aus: die einen Bastarde haben nur die anderen Bastarde ausgewechselt. Wegen der Krim lassen wir sie in Ruhe, aber danach zerreißen wir sie.“

Angesichts der Krim-Krise hat die neue ukrainische Regierung derzeit keine Attacken der politischen Gegner, egal ob von der Straße oder aus dem Parlament, zu befürchten. Doch von einer stabilen Lage sind sie weit entfernt. Dmitri Jarosch, der Führer des Rechten Sektors, hat auf die Frage, ob sich die Abgeordneten der Partei der Regionen in Kiew sicher fühlen könnten, am Samstag geantwortet: „Wir sind gegen Selbstjustiz. Aber diejenigen, die Straftaten begangen haben, sollen nach dem Gesetz bestraft werden.“ Und es gibt noch viele andere Mitglieder der Samooborona, die sich Jarosch nicht unterordnen.