Der neue Regierungschef der Ukraine, Arsenij Jazenjuk, warnt die Menschen bereits in seiner Antrittsrede davor, dass unpopuläre Entscheidungen anstehen.

Kiew - Die bedrohlichen Entwicklungen auf der Halbinsel Krim und das Auftauchen von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch in Moskau, haben die Sondersitzung der Rada überschattet. Das ukrainische Parlament hat am Donnerstag, nach monatelangen Protesten, eine neue Regierung gewählt. Während in Kiews Innenstadt Tausende Menschen der mehr als 80 Toten gedachten, die vor genau einer Woche bei schweren Auseinandersetzungen von Spezialkräften erschossen worden waren, kamen die Abgeordneten der Rada zusammen.

 

Einige der Protagonisten, die für Regierungsämter vorgesehen waren, bekamen kalte Füße, bevor es in die Regierungsverantwortung ging. Die größte Hoffnungsträgerin der Maidan-Aktivisten, Olga Bogomolets, die den Medizindienst des Maidans leitete, verkündete am Morgen überraschend, sie werde der Regierung nicht angehören. Die Ärztin und bekannte Sängerin sollte Vizepremierministerin für humanitäre Angelegenheiten werden. Der neue Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk hingegen überzeugte mit einer starken Antrittsrede. „Er ist in den letzten Wochen an seiner Verantwortung gewachsen“, bescheinigte ihm Boris Tarasjuk, Vizepremierminister für Europäische Integration. Tarasjuk ist ein enger Weggefährte Jazenjuks; beide hatten während der Regierungszeit des prowestlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko einen Nato-Beitritt der Ukraine vorangetrieben.

Der Regierungschef fordert Schutz für sein Land

Jazenjuk forderte die internationale Staatengemeinschaft auf, die Ukraine zu beschützen. „Ich rufe alle Unterzeichner des Budapester Memorandums von 1994 auf, die Sicherheit und territoriale Integrität der Ukraine zu garantieren“, sagte er, „auch Russland hat den Nichtangriffspakt damals unterzeichnet.“ Jazenjuk unterstrich, Russland und die Ukraine seien „keine Feinde, die sich bekämpfen“. Nun sei es endlich an der Zeit, eine „strategische Partnerschaft aufzubauen“.

Seinen Landsleuten im Osten und im Süden des Landes rief Jazenjuk zu, sich nicht von separatistischen Bestrebungen „fehlleiten zu lassen“. Ex-Präsident Janukowitsch hatte sich wenige Minuten vor der Antrittsrede Jazenjuks mit einer Stellungnahme aus Moskau gemeldet und verlauten lassen: „Der Osten und der Süden der Ukraine unterstützen mich“. Von Russland forderte Jazenjuk, „keinem der früheren Regierungsmitglieder und hohen Beamten Schutz zu gewähren“: „Sie haben sich des Massenmordes schuldig gemacht, ich rede speziell über Ex-Präsident Janukowitsch“. Jazenjuk schloss diesen Teil seiner Rede mit den Worten „Die Ukraine und Russland sind Freunde, Partner und wollen vorwärts schauen“ – und erhielt Applaus von allen Fraktionen.

Leere Kassen durch „Janukowitschs Exzesse“

Der neue Regierungschef präsentierte seinen Landsleuten „die Bilanz Janukowitschs“: Unter dessen Regime seien in den vergangenen drei Jahren 70 Milliarden US Dollar „gestohlen“ worden. Das von ihm eingesetzte Ministerium für Steuern habe dazu gedient, das Land „systematisch auszuplündern“. Auch wegen dieser „Exzesse“ seien die Kassen leer. „Wir werden bereits in Kürze sehr unpopuläre Entscheidungen treffen, das möchte ich dem ukrainischen Volk ehrlich und in aller Offenheit sagen“, erklärte Jazenjuk. Das Land müsse unverzüglich Verhandlungen mit Finanzinstitutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank aufnehmen. Neben der Stabilisierung des Finanzsektors gehöre jetzt auch die Bekämpfung der Korruption zu den dringendsten Aufgaben. Während die Rede von den Fraktionen der früheren Oppositionsparteien Vaterland, Udar und Swoboda mit Szenenapplaus begleitet wurde, waren die Abgeordneten der ehemaligen Präsidentenpartei, Partei der Regionen, nicht vollzählig im Parlament erschienen.

Jazenjuk beendete seine Rede mit dem alten Ruf der Unabhängigkeitsbewegung, der in den vergangenen Monaten zum Slogan des Maidans wurde: „Slawa Ukraini – Ehre der Ukraine.“ Der Ministerpräsident kündigte an, nicht an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen. Der ehemalige Boxweltmeister Vitali Klitschko (Udar) und Oleg Tjanibok (Swoboda), die während der Maidan-Proteste Jazenjuks Weggefährten waren, dürften diese Äußerung mit Wohlwollen aufgenommen haben. Beide hatten Regierungsämter abgelehnt und stattdessen ihre Präsidentschaftskandidatur angekündigt. Auch Petro Poroschenko, Oligarch mit eigenen politischen Ambitionen, war am Vormittag ins Parlament gekommen. Mit tiefen Augenringen und blasser Haut sagte er vor Journalisten: „Ich bin froh, dass wir heute, eine Woche nach dem Massaker auf dem Maidan, eine handlungsfähige Regierung gewählt haben. Ich wünsche Arsenij viel Erfolg.“