„Die Werbewirtschaft und die Medien ersetzen sukzessive die einstige gesellschaftliche Autorität“, sagt Schmiedel. Wo früher Eltern erklärten, dass Nagellack nicht infrage kommt, argumentiert die Werbewirtschaft mit dem modernen Mitspracherecht der Kinder, sich auszuprobieren. „Aber die Kinder sind so stark den Medieneinflüssen ausgesetzt, dass man gar nicht mehr entscheiden kann“, sagt Etschenberg in der Fernsehdokumentation „Vom Strampler zu den Strapsen“. Kein Mensch glaubt ernsthaft, dass ein kleines Mädchen aus sich heraus danach strebt, sexy zu sein, so Schmiedel: „Es ahmt nach“ – nämlich das, wofür ihm gesellschaftliche Anerkennung winkt. „So kommt es dazu, dass Achtjährige Push-up-BHs tragen. Es ist nicht die Frage, ob das Kind das will.“

 

Ein deutliches Beispiel für Sexualisierung sind in den Augen Etschenbergs die Puppen der Serie „Monster High“. Die extrem dünnen Figuren mit riesigen Augen und Schlafzimmerblick, die optisch zwischen Vampirsaga und Lady Gaga changieren, existieren seit 2010 und haben in den USA bereits Barbie-Status. Die Heldin Frankie tritt im extremen Minirock mit Lolita-Lächeln auf; die Kleidung samt Perücke gibt es für kleine Mädchen im Spielwarenhandel zu kaufen. Über sich selbst sagt Frankie auf der Website: „Meine Freunde meinen, ich hätte den perfekten Fashion-Body. Zwar weiß ich noch nicht recht, was das bedeutet, aber sie haben mich zum Shoppen mitgenommen, wo es zum Sterben stylishe Outfits gab.“ Ihre Freundin Clawdeen Wolf, nach eigenem Bekunden „Fashionista“, berichtet über den Haarwuchs an ihren Beinen: „Zupfen und Rasieren nehmen mich voll in Anspruch – aber Schönheit hat eben ihren Preis.“

Eine Puppe, verfügbar in jeder Pose

Schmiedel sagt, die Puppen seien noch idealisierter, noch sexualisierter als Barbie. Etschenberg verweist auf die fehlende Unterwäsche der Puppe, auf bewegliche Gliedmaßen, die das Wesen in jeder Pose verfügbar machen. „Das ist nicht kindgemäß, das macht man, um attraktiv zu sein“, so Etschenberg. Frankie hat extrem dünne Beine, die das unter Teenagern aktuelle und gefährliche Hunger-Schönheitsideal des „Thigh Gap“ – des Freiraums zwischen den Innenseiten der extrem abgemagerten Oberschenkel – propagieren.

Es gibt also einen direkten Anschluss des Kinderzimmers an die Popkultur: mit Lady Gaga, die von sich sagt, dass sie seit 15 Jahren bulimiekrank ist, mit Katy Perry, aus deren Brüsten in einem Video Schlagsahne spritzt, und mit dem Ex-Kinderstar Miley Cyrus, inzwischen eine junge Frau, die sich über den sexualisierten Tabubruch vermarktet. Das Bild, das sich vermittelt: natürlich dürfen Mädchen schlau sein und in der öffentlichen Welt mitmachen und berühmt werden – aber Grundvoraussetzung ist es, dünn, schön und sexuell verfügbar zu sein. „Es gibt nur eine Form der Weiblichkeit“, schlussfolgert Gail Dines. „Und die macht sie anfällig für alle möglichen Formen des Missbrauchs.“ Die Gefahr für Mädchen ist nicht abstrakt, sondern sehr konkret, wie Stevie Schmiedel herausgefunden hat. Sie hat sich in ihrer Arbeit über Jahre mit Frauen- und Körperbildern in der Werbung beschäftigt. Ein Beispiel für die Wirkung von Medienidolen auf das Körpergefühl ist in ihren Augen die Sendung „Germany’s Next Top Model“ mit Heidi Klum. Schmiedel verweist auf Untersuchungen seit dem Start der Show in Deutschland. „2006 waren 70 Prozent der befragten Mädchen mit ihrem Körper zufrieden, 2009 noch 55 Prozent und 2012 noch 46 Prozent.“ Eine andere Erhebung zeigt das Missverhältnis zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit: „Mehr als 75 Prozent aller Mädchen fühlen sich zu dick. 85 Prozent sind normalgewichtig.“

Ist das alles nur Katastrophismus übereifriger Feministinnen? Haben Mädchen sich nicht zu allen Zeiten gern verkleidet, Mamas Klapperschuhe ausprobiert und Prinzessin gespielt? Spiegelt die Statistik denn nicht einen rasanten gesellschaftlichen Wandel wider? Mädchen sind die Bildungsgewinnerinnen, die Zahl der Frauen in Führungspositionen steigt, genau wie ihr Anteil an der Erwerbsarbeit und – wenn auch sehr langsam – in technischen Berufen.

Stimmt alles, sagt Roswitha Pioch, Direktorin des Instituts für Genderforschung an der Fachhochschule Kiel. „Frauen und Männer können heute in viel größerem Maße als früher wählen, welche Rollen sie wann in ihrem Leben spielen.“ Kinderwunsch und Job sind kombinierbar, Männer engagieren sich bei der Erziehungsarbeit. Pioch sagt, die Werbung spiele bei Erwachsenen mit dieser wachsenden Vielfalt an Rollenbildern. Bei Kindern sei es das Gegenteil: Geschlechterrollen würden als Stereotype in Produkten, Werbung und Medien zementiert. Roswitha Pioch, die viel zur Arbeitswelt forscht, hält die Einschränkung nicht nur ethisch, sondern angesichts des demografischen Wandels auch ökonomisch für bedenklich. „Wir können es uns einfach nicht leisten, weibliches Ingenieurpotenzial nicht zu entwickeln, nur weil kleine Mädchen mit ,Top Models‘ im Fernsehen oder mit Werbesprüchen wie ,In Mathe bin ich Deko‘ immer wieder in ganz andere Rollenzuschreibungen gedrängt werden.“ Sie ärgert sich in diesem Rahmen auch über die wieder aufkommende biologistische Argumentation, Frauen seien angeblich aus sich heraus desinteressierter an technischen Berufen.

Die Werbung erreicht die Kinder direkt

Ausgerechnet bei Kindern und Jugendlichen versagt die Gesellschaft augenscheinlich darin, gegen das alte Rollenmodell anzugehen, in dem weibliche Schönheit über alles geht. Ein Mechanismus lebt auf, der Mädchen in dies Modell früher Verweiblichung drängt und scheinbar nur zwei Wege eröffnet, eine Frau zu sein – oder, wie die Bostoner Soziologieprofessorin Gail Dines es formuliert: fuckable or invisible.

Expertinnen wie Stevie Schmiedel und die Erziehungswissenschaftlerin und Sexualpädagogin Karla Etschenberg verweisen auf einen entscheidenden Punkt: Werbung und Vermarktungsindustrie entfalten eine gewaltige, auch normative Kraft: durch das Internet und mittels mobiler Endgeräte, zu denen der Zugang von Kindern – anders als früher zum Beispiel der zum Fernsehen – kaum reguliert ist. Kinder werden zu direkten Marketingzielen.

Die Eltern haben nichts mehr zu melden

„Die Werbewirtschaft und die Medien ersetzen sukzessive die einstige gesellschaftliche Autorität“, sagt Schmiedel. Wo früher Eltern erklärten, dass Nagellack nicht infrage kommt, argumentiert die Werbewirtschaft mit dem modernen Mitspracherecht der Kinder, sich auszuprobieren. „Aber die Kinder sind so stark den Medieneinflüssen ausgesetzt, dass man gar nicht mehr entscheiden kann“, sagt Etschenberg in der Fernsehdokumentation „Vom Strampler zu den Strapsen“. Kein Mensch glaubt ernsthaft, dass ein kleines Mädchen aus sich heraus danach strebt, sexy zu sein, so Schmiedel: „Es ahmt nach“ – nämlich das, wofür ihm gesellschaftliche Anerkennung winkt. „So kommt es dazu, dass Achtjährige Push-up-BHs tragen. Es ist nicht die Frage, ob das Kind das will.“

Ein deutliches Beispiel für Sexualisierung sind in den Augen Etschenbergs die Puppen der Serie „Monster High“. Die extrem dünnen Figuren mit riesigen Augen und Schlafzimmerblick, die optisch zwischen Vampirsaga und Lady Gaga changieren, existieren seit 2010 und haben in den USA bereits Barbie-Status. Die Heldin Frankie tritt im extremen Minirock mit Lolita-Lächeln auf; die Kleidung samt Perücke gibt es für kleine Mädchen im Spielwarenhandel zu kaufen. Über sich selbst sagt Frankie auf der Website: „Meine Freunde meinen, ich hätte den perfekten Fashion-Body. Zwar weiß ich noch nicht recht, was das bedeutet, aber sie haben mich zum Shoppen mitgenommen, wo es zum Sterben stylishe Outfits gab.“ Ihre Freundin Clawdeen Wolf, nach eigenem Bekunden „Fashionista“, berichtet über den Haarwuchs an ihren Beinen: „Zupfen und Rasieren nehmen mich voll in Anspruch – aber Schönheit hat eben ihren Preis.“

Eine Puppe, verfügbar in jeder Pose

Schmiedel sagt, die Puppen seien noch idealisierter, noch sexualisierter als Barbie. Etschenberg verweist auf die fehlende Unterwäsche der Puppe, auf bewegliche Gliedmaßen, die das Wesen in jeder Pose verfügbar machen. „Das ist nicht kindgemäß, das macht man, um attraktiv zu sein“, so Etschenberg. Frankie hat extrem dünne Beine, die das unter Teenagern aktuelle und gefährliche Hunger-Schönheitsideal des „Thigh Gap“ – des Freiraums zwischen den Innenseiten der extrem abgemagerten Oberschenkel – propagieren.

Es gibt also einen direkten Anschluss des Kinderzimmers an die Popkultur: mit Lady Gaga, die von sich sagt, dass sie seit 15 Jahren bulimiekrank ist, mit Katy Perry, aus deren Brüsten in einem Video Schlagsahne spritzt, und mit dem Ex-Kinderstar Miley Cyrus, inzwischen eine junge Frau, die sich über den sexualisierten Tabubruch vermarktet. Das Bild, das sich vermittelt: natürlich dürfen Mädchen schlau sein und in der öffentlichen Welt mitmachen und berühmt werden – aber Grundvoraussetzung ist es, dünn, schön und sexuell verfügbar zu sein. „Es gibt nur eine Form der Weiblichkeit“, schlussfolgert Gail Dines. „Und die macht sie anfällig für alle möglichen Formen des Missbrauchs.“ Die Gefahr für Mädchen ist nicht abstrakt, sondern sehr konkret, wie Stevie Schmiedel herausgefunden hat. Sie hat sich in ihrer Arbeit über Jahre mit Frauen- und Körperbildern in der Werbung beschäftigt. Ein Beispiel für die Wirkung von Medienidolen auf das Körpergefühl ist in ihren Augen die Sendung „Germany’s Next Top Model“ mit Heidi Klum. Schmiedel verweist auf Untersuchungen seit dem Start der Show in Deutschland. „2006 waren 70 Prozent der befragten Mädchen mit ihrem Körper zufrieden, 2009 noch 55 Prozent und 2012 noch 46 Prozent.“ Eine andere Erhebung zeigt das Missverhältnis zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit: „Mehr als 75 Prozent aller Mädchen fühlen sich zu dick. 85 Prozent sind normalgewichtig.“

GNTM ist „eine Form seelischer Grausamkeit“

Ursula Enders, Gründerin des Vereins Zartbitter, der sich seit Ende der achtziger Jahre gegen sexuellen Missbrauch engagiert, sieht in der Abwertung von Jugendlichen in Castingshows eine „Kultur der Erniedrigung“. Die Art, wie die junge Frauen bei Heidi Klum vorgeführt würden, sei eine Form seelischer Grausamkeit, erklärt Enders auf der Internetseite der EU-Aufklärungsinitiative „klicksafe“. Der Druck auf Mädchen ist aus ihrer Sicht sehr hoch. Zu den Bildern, die auf Kinder einströmen, gehört auch Hardcorepornografie im Netz.Von der Suchseite Google aus braucht es genau vier Klicks bis zum ersten Video mit Analverkehr, drei Klicks weiter kann man zusehen, wie Frauen beim Sex misshandelt und beschimpft werden. Enders: „Nahezu alle jugendlichen Mädchen werden wiederholt mit harter Pornografie im Netz konfrontiert.“ Bei vielen lösten diese Eindrücke Selbstzweifel aus, sie fragten sich, was mit ihnen nicht in Ordnung sei, weil sie die gezeigten Praktiken nicht wünschen.

Stevie Schmiedel macht die Erfahrung, dass Schule auf diese Entwicklung nach wie vor unzureichend reagiere. „Vieles wird nicht thematisiert. Sexualkunde ist in der vierten Klasse auf dem Lehrplan, da redet man nicht über Pornos.“ Danach klaffe häufig eine Lücke. Der Präsident der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Jakob Pastötter, spricht bei „klicksafe“ von der Dominanz der Bilder. Wird die „sinnliche Vorstellungslücke“ von solchen Bildern gefüllt, kann ein sexuell unerfahrener Mensch seine eigenen Vorstellungen schwerlich überhaupt dagegen entwickeln. Sexuelle Aufklärung stehe wie ein „wohlmeinender David“ nehmen einem „medialen Goliath“.

Nacktfotos, per Smartphone geschickt

Zum medialen Goliath gehört auch die Echtzeitkommunikation mit Smartphones und in sozialen Netzwerken, in der die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum verwischen. Erst vor drei Wochen schickten mehrere Schulleiter aus Cloppenburg einen Aufsehen erregenden Brief an die Eltern ihrer Schüler – das Problem: Sexting. Schülerinnen, die offenbar verinnerlicht haben, dass sexuelle Verfügbarkeit von ihnen erwartet wird, senden mit dem Handy gemachte Nacktfotos von sich an ihre Angebeteten. Die Bilder werden im Netz hochgeladen, verbreiten sich im Nu. Die Mädchen sind blamiert.

Was tun? Was für einen gefährlichen Rückschritt leistet sich diese Gesellschaft, die doch eigentlich Gleichstellung und Rollenvielfalt als Errungenschaften betrachtet und die Möglichkeit der freien Entfaltung als ein Menschenrecht? Schmiedel ist vergangenes Jahr der Kragen geplatzt. Sie kam aus einem ihrer Seminare, in dem sie über die verschobene Körperwahrnehmung berichtet hatte. An der nächsten Litfaßsäule traf sie ein Lächeln – das von Heidi Klum. „Ich dachte, jetzt reicht es“, sagt sie. Und gründete in Hamburg den bundesweit agierenden Verein Pinkstinks. Anderthalb Jahre und viele Stunden Arbeit später ist Schmiedel zum Gesicht einer wachsenden Bewegung geworden: Pinkstinks hat eine Plakatserie von C&A gekippt, das rosafarbene Überraschungsei für Mädchen zumindest für eine Weile vom Markt gefegt, eine Petition an den Werberat übergeben, geht mit einem Theaterstück über Rollenbilder an Schulen, debattiert mit Politikern und arbeitet gerade an einem Entwurf für eine Neufassung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb mit Gleichstellungsgebot.

„Wir müssen Druck machen, nichts verändert sich von selbst“, sagt Schmiedel.