Etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland sind magersüchtig. Auch Larissa Sarand war erkrankt. Sie hat ihren Weg zurück in die Normalität gefunden – leicht war dieser nicht.

Frau Sarand, auf dem Höhepunkt Ihrer Magersucht wogen Sie 39 Kilo bei einer Körpergröße von 1,65 Meter. Wen haben Sie gesehen, wenn Sie in den Spiegel geschaut haben?

Einen skelettierten, beflaumten Zombie im Sommerkleidchen.

 
Anderthalb Jahre zuvor haben Sie innerhalb von sechs Wochen beide Eltern verloren. Woher kam der Zwang, kaum noch zu essen?
Magersüchtige haben Angst vor Essen. Sie fürchten, sie werden zum Fettriesen. Bei mir ging es damit los, dass ich mir immer mehr Regeln auferlegte: Kohlenhydrate waren verboten. Ich habe keine Nudeln und keine Pizza mehr gegessen. Das ging langsam los und verselbstständigte sich, bis fast jedes Lebensmittel auf der Verbotsliste stand. Der Befehl kam von meinem Hirn: „Nimm’ ab!“ Eine Zwangsstörung ist das.
Im Restaurant haben Sie immer Essen zur Seite geschmuggelt. Hat das niemand mitgekriegt?
Nein. Wenn Sie zu fünft im Restaurant sitzen, ist das Essen Nebensache. Man schaut sich in die Augen, nicht auf den Teller.
Nicht einmal Ihr Freund hat etwas bemerkt?
Doch, aber er war genauso hilflos wie ich. Und wenn er mich einmal darauf angesprochen hat, habe ich, wie allen anderen gegenüber auch, bissig reagiert.
Sie sagen, Magersucht sei Hochleistungssport.
Das ist sie. Weil die Krankheit die Betroffenen sieben Tage die Woche beschäftigt. Sie können sich auf nichts anderes mehr fokussieren. Sie rechnen den ganzen Tag nur nach, wie viele Kalorien ihre Lebensmittel haben.
Wie viele Kalorien pro Tag waren für Sie okay?
Um die 800 Kalorien. Normal für meine Größe sind um die 2000 Kalorien. Ich habe aber nicht nur wenig gegessen. Ich habe auch viel Sport gemacht, um Kalorien zu verbrennen. Doch das hat sich gerächt. Irgendwann haben meine Ärzte festgestellt, dass ich mir drei Ermüdungsbrüche an der Hüfte zugezogen habe. Die Ärzte konnten das kaum glauben. Osteoporose und Brüche in der Hüfte sind sonst eher in der Geriatrie zu finden.
Der ständige Nahrungsmangel hat Ihre Knochen brüchig gemacht?
Nicht nur das. Auf dem Kopf sind mir die Haare büschelweise ausgefallen. Dafür wuchs mir auf den Armen und Beinen ein Flaum. Meine Haut war trocken. Die Nägel wurden brüchig. Das Zahnfleisch ging zurück. Mir war immer kalt. Außerdem war ich die meiste Zeit völlig benebelt. Mir ist neulich meine Masterarbeit in die Hände gefallen, die ich im März 2016 abgegeben habe. Ich kann mich an keinen einzigen Satz darin mehr erinnern.
Sie schreiben, die Magersucht habe auch Ihr Sexualleben zerstört.
Es findet sowieso ein kompletter sozialer Rückzug statt. Man hat gar nicht mehr die Kraft, auszugehen und Freunde zu treffen.
Begonnen hat alles mit dem Tod Ihrer Eltern.
Ich habe nicht geweint, das kam erst anderthalb Jahre später. Ich habe die Trauer einfach nicht an mich herangelassen. Ich glaube, die Magersucht hat mich davon abgelenkt. Sie war ein Schutzmechanismus, der sich dann aber ins Gegenteil verkehrt hat.