„Mahagonny“ an der Stuttgarter Oper Le Bohème bei Ballermanns

Frau Begbick (Alisa Kolosova) gibt den Ton an, Fatty (Elmar Gilbertsson, links) und Dreieinigkeitsmoses (Joshua Bloom) trampeln auf Michelangelos Weltgericht herum. Foto: Martin Sigmu/d

Ulrike Schwab inszeniert „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ mit der Musik von Kurt Weill und dem Text von Bert Brecht an der Stuttgarter Oper. Das antikapitalistische und atheistische Stück wird bürgerlich und christlich unterwandert.

In beiden Achselhöhlen ein Halfter, aus dem ein Pistolengriff lugt. Andere tragen den Bleispritzenphallus in Sackhöhe wie der gute alte John Wayne, gerade auch die Damen. Aber zuviel Wildwest ist ungesund für das Stück, befanden schon Kurt Weill, Bert Brecht und ihr Verleger. Die Autoren dreschen zwar Ami-Klischees (Kapitalismus, Catchen, Kaugummi), frönen Puff- und „Milljöh“-Romantik, montieren Kitsch, Schund und zündenden Schmiss. Was die Popularität der „Mahagonny“-Masche ausmacht. Aber der Parasiten-Kapitalismus wird nur deshalb im populären Trivial-Spiegelbild vorgeführt, damit er sich dialektisch in Anti-Kapitalismus aufhebe. Zuviel schwere Jungs und leichte Mädchen lassen den Weg zum hehren Ziel auf die schiefe Bahn geraten.

 

Es gilt blanke Gewalt

Dass die Regisseurin Ulrike Schwab die leichten Mädchen (inklusive einem leichten Jungen) samt allen anderen bewaffnet, stellt in ihrer Inszenierung im Stuttgarter Opernhaus klar: Es gilt blanke Gewalt. Und das Personal der sexuellen Marktwirtschaft, das mit Leitern und Stangen sein Proto-Las Vegas selbst baut, ist zugleich der eigene Werkschutz. Denn wo man laut marktschreierischer Reklame, als wär’s das definitive Sonderangebot, alles dürfen darf, braucht es gelegentlich finale Firmenrettungsschüsse, damit die Chancenlosen niemals die Chance haben, die man ihnen vorgaukelt. Etwa der Alaskawolfjoe (Jasper Leever) im Preisboxen gegen Dreieinigkeitsmoses. Bei Brecht ist von vornherein klar, wer der Chef im Ring ist. Bei Schwab geht genau der zu Boden, also wird Champion Joe abgeknallt, bevor er einer ist.

Alles ist Fake

Eine Zuspitzung, die ins Pechschwarze trifft: Alles in Mahagonny ist Machenschaft, selbst der Tod. Und der tödliche Hurrican, der als Fake aus den Ventilatoren der Protagonistinnen stammt. Kein Wunder, dass er kurz vor der Stadt abdreht. Wird aber als Wunder verkauft: Manipulation wird Religion. Und der gnade Gott, wenn er’s denn könnte. Doch der Herrgottsverschnitt, den Dreieinigkeitsmoses am Ende mimt, kann nicht mal die Whiskeysäufer zur Hölle fahren lassen. Weil sie längst dort sind. Dass die „Paradiesstadt“ die Hölle ist, hat keiner so schnell kapiert wie Jim Mahoney, der doch nur den Lohn von sieben Jahren harter Arbeit in Spaß investieren wollte. Aber die Vergnügungen sind schal, und selbst als jede Todsünde erlaubt ist, bleibt bei Todesstrafe eine übrig: kein Geld haben. Bei Brecht ist Jim eine Modellfigur, bei Schwab ein randalierender Bürger-Anarchist und verhinderter Schöngeist im verfilzten Flokati-Mantel: Le Bohème bei Ballermanns auf Fressen-Ficken-Fresse-polieren-und-Saufen-Tour. Aber die eingekaufte Jenny liebt er aufrichtig. Was sie nicht daran hindert, ihm am Ende die Kugel zu geben: coole Mahagonny-Logik. Passt also, dass Kai Kluge seine Verzweiflungsarie als puccinesker Tenorissimo schmettert: manchmal mehr Stahl als Schmelz, dennoch grandios.

Dealer des Opiums fürs Volk

Um die Fallstricke, die das Stück zwischen Kabarett und (anti-)kapitalistischem Mysterienspiel auslegt, schleicht die Regisseurin herum, zeigt im Zweifel bewährte Abziehbilder. Dreieinigkeitsmoses (Joshua Bloom mit profundem Bass) – der Dealer des Opiums fürs Volk, das er im Namen trägt – und Fatty (Elmar Gilbertsson mit vorlautem Galgentenor) sind Zuhälterclowns mit Pelzstola und Goldkettchen. Ihnen stehlen die Damen die Show und das Geschäftsmodell: Kupplerin Begbick und die Prostituierte Jenny in glitzergrauer Dessous-Rüstung (Kostüme: Rebekka Dornhege Reyes) sind das Lesbenpärchen, das die Chose wuppt.

Feministisch umgedeutet verweigert Schwab gleichwohl nicht den Reiz des Verruchten, dem als größtem Risiko des Stücks eher zu misstrauen wäre. In den mit Kolportage und sinnverkehrten Bibelsprüchen gefütterten Spielszenen führt das immerhin zu ansehnlicher Theatralik – und himmlischer Assoziation: hier das Zu-Tode-Fressen vor nackter Dekadenz und goldenen Kälbern; dort die Wolken als Sinnbilder von Wahn und Sehnsucht. Himmelsschäfchen am Horizont, Himmelsnippes auf der Bühne, aus dem Liebespfeile geschossen, Blitze geschleudert werden. Und Jenny trägt Wolkentutu.

Unterm Strich verharmlost

Unterm Strich verharmlost der drall verspielte Leben-und-Sterben-lassen-Vitalismus Brechts Totentanz, zu dem Weills geniale Musik aufspielt. Dort, wo sie am Nahbarsten erscheint, ist sie am meisten Zombiemusik: nicht nur im mumifizierten Salonkitsch des „Gebets einer Jungfrau“, das vom Vokalisenchor noch nachgebetet wird, auch in den Greatest Hits, wo Weill demonstriert, wie kulturindustrielle Glätte den lebendigen Ausdruck tilgt, dem nur seine Verfremdungsharmonik die Treue wahrt. So hat Anja Silja den „Alabama“-Refrain mit wächserner Anmut als Kindertotenlied erkannt, Ida Ränzlöv verrät ihn vibrierend ans Varieté; sonst gestaltet sie ihren Part als sopranleuchtende Jenny so hervorragend wie Alisa Kolosova mit markig-sonorem Mezzo den ihren als Begbick.

Im flottem Operettenschwung verkündet die Musik Egoismus, in unfrommen Chorälen predigt Brecht Atheismus. Den Schwab und die Bühnenbildnerinnen Pia Dederichs und Lena Schmid christlich unterwandern. Einerseits liegt ihr Mahagonny – orthodox Brechtisch – im desillusionierten Illusionsraum des Opernhauses selbst: mit Steg ins Parkett, bespielten Logen, Projektionen an die Wand und Orchester hinten auf der Bühne, wo einiges an Klang geschluckt wird und auch Cornelius Meister einzelne rhythmische Unschärfen in der Relation zum Gesang nicht wegdirigieren kann. An federndem Elan mangelt es nicht, das dynamische Relief aber hat nur phasenweise jene Energie und Feinzeichnung, die man sonst von Meister hört.

Finalpointe wirkt wie evangelikale Rache am gottlosen Stück

Andererseits gründet Mahagonny hier auf Michelangelos auf den Bühnenboden zitiertem „Jüngsten Gericht“. Aber das Stück hält kein Gericht über den Menschen, erst recht kein christliches, sondern über die Verhältnisse, die ihn zurichten. Konsequent immerhin im Missverständnis, dass Schwab das bittere kollektive Ende erst zur Selbstmordsekte umbiegt, dann zum Kirchentag: Frau Begbick (mit „Jesus looks like me“-Shirt) am Schlagzeug, Frau Jenny an der Gitarre singen „Oh when the saints go marching in“. Wirkt wie evangelikale Rache am gottlosen Stück.

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Am 15., 26. und 28. Mai, 1., 8., 11. und 29. Juni.

Weitere Themen

Weitere Artikel zu Oper Stuttgart Premiere