Seit dem 14. Juli harren die Gegner von Stuttgart 21 am Nordflügel des Hauptbahnhofs aus. StZ-Online war einen Tag lang dabei.

Stuttgart - Seit dem 14. Juli harren die Gegner von Stuttgart 21 am Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs aus. Tag und Nacht, bei Hitze und Regen kann man sie gleich neben dem Nordausgang finden. Ihre Mahnwache haben sie "Basislager Nordflügel" getauft. StZ-Online hat sie einen Tag begleitet. Ein Protokoll.

9.15 Uhr
Bereits jetzt sind rund 25 Männer und Frauen aus allen Teilen der Bevölkerung um den Protestpavillon versammelt. Ein älterer Herr fegt den Platz, für Zigarettenkippen stehen Behälter bereit. Die Leute von der Mahnwache, die die Nacht direkt am Bonatz-Bau verbracht haben, strecken sich und reiben sich den Schlaf aus den Augen. Eine ältere Dame bringt Brötchen und frischen Kaffee. Immer wieder bleiben Passanten kurz stehen, nehmen Info-Material mit und solidarisieren sich mit den Leuten von der Mahnwache. Polizei und der private Sicherheitsdienst der Bahn patrouillieren im Halbstundentakt.

9.45 Uhr
Die Befürworter des Kopfbahnhofs (K 21) haben sich einiges einfallen lassen. Es gibt kleine Buttons, Aufkleber mit verschiedenen Slogans und zahlreiche Informationsbroschüren. Eine Broschüre zeigt den Schlossgarten als grüne Oase und während der Baustelle als braune Wüste. Finanziert werden die Werbematerialien ausschließlich über Spenden. So mancher Euro wandert in die Spendenbox.

Plötzlich füllt sich der Platz mit Jugendlichen. Ein Lehrer besucht mit seiner Schulklasse die Mahnwache und erklärt den Schülern die Bedeutung des Bonatz-Baus und die Auswirkungen von Stuttgart 21. Viele Schüler nehmen sich Aufkleber und Buttons mit, andere äußern sich ganz klar für Stuttgart 21.

10.30 Uhr
Es wird etwas leerer, dennoch sind die Mitglieder der Mahnwache nie alleine. Ungefähr ein Dutzend Unterstützer sind noch da. Eine ältere Dame, die in der Nähe ihren Gemüsegarten hat, kommt vorbei, um einen Schwatz zu halten. Sie ist von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet, der Farbe von K 21. Als sich die Sonne zeigt, packen die Initiatoren ihre Solarkollektoren aus und laden ihre Handys auf. Ein junger Mann jongliert. Mitarbeiter einer Reinigungsfirma entfernen Slogans, die die Stuttgart-21-Gegner mit Kreide auf den Boden gemalt haben. Kaum sind die Reinigungskräfte verschwunden, macht sich das Mahnwachen-Team wieder an die Arbeit. Einer berichtet, dass die Botschaften regelmäßig entfernt würden. Eine Hase- und Igel-Spiel.

11.45 Uhr
Aktivisten verteilen Flyer an Büroangestellte, die auf dem Weg zur Mittagspause sind. Die Zahl der Menschen an der Mahnwache nähert sich wieder 25. Einige nehmen sich Zeit, hören zu und packen die Flyer ein, Bahnmitarbeiter zeigen ihren Dienstausweis und eilen weiter. Eine Stuttgarterin baut einen Notenständer auf und spielt auf ihrer Geige traurige Melodien. Auch während der hektischen Mittagspause tragen sich Passanten in Unterstützerlisten ein. Jemand bringt Eiscreme - in der Mittagshitze eine willkommene Spende.

13.15 Uhr
Ein Sympathisant der Links-Partei schwenkt eine Fahne. Die Leute von der Mahnwache fordern ihn auf, die Fahne wegzupacken. Die Demonstranten wollen sich von keiner Partei instrumentalisieren lassen. Das Bündnis gegen Stuttgart 21 ist vielfältig. Im Laufe des Tages trifft man junge Menschen, die ein freiwilliges ökologisches Jahr absolvieren, Schüler, Zivildienstleistende, aber auch ältere Berufstätige oder Rentner, der sich zum ersten Mal in seinem Leben an einer Demonstration beteiligen. Der Pressesprecher der Initiative, Matthias von Herrmann, hat sich für die Zeit der Mahnwache Urlaub genommen. Immer wieder hört man von Teilnehmern, dass sie bis jetzt überzeugte CDU- oder SPD-Anhänger waren, sich aber durch Stuttgart 21 bei der Landtagswahl 2011 wohl anders entscheiden wollen. Eine ältere Teilnehmerin auf die Frage, ob man Stuttgart 21 überhaupt aufhalten könne: "Es ist nie zu spät, ich würde nicht hier stehen, sondern im Café Schwarzwälder Kirsch-Torte essen, wenn ich nicht an unseren Erfolg glauben würde."

Deutlich sichtbar tragen die K-21-Unterstützer ihre Ablehnung von Stuttgart 21 zu Schau. Man findet die Aufkleber oder Buttons auf Mützen, T-Shirts, Taschen, Pullis und Rädern. Eine ältere Dame hat ihren Rollator mit einem Aufkleber ausgestattet. Sie fürchtet massive Verschlechterungen für ältere oder behinderte Menschen durch Stuttgart 21.

14 Uhr
Obwohl die Mahnwache rund um die Uhr besetzt ist, wechselt die Mannschaft regelmäßig. Jeder beteiligt sich so, wie er oder sie es kann. Eine Frau stampft plötzlich auf den Boden, ruft "Deutsch", weil ihr ein Wort nicht einfällt. Sie ist vor mehr als 27 Jahren als Studentin aus den USA nach Stuttgart gekommen und in der Stadt geblieben. "Ich habe lange Jahre am Bahnhof gewohnt, mir bricht es das Herz, wenn ich sehe, was hier geschehen soll." Als Dozentin und Pianistin kann die Amerikanerin ihre Zeit freier einteilen, sie versucht so oft wie möglich an der Mahnwache teilzunehmen.

16.15 Uhr
Am Himmel ziehen dunkle Regenwolken auf. Während die Organisatoren den Pavillon regensicher machen, schaut Peter Dübbers vorbei. Er ist der Enkel des Hauptbahnhof-Architekten Paul Bonatz und selbst Architekt. Obwohl seine Klage gegen den Abriss noch offen ist, will die Bahn vom 1. August an Fakten schaffen und mit dem Abriss des Nordflügels beginnen. Bereits jetzt sind Aufzüge verschweißt, die Feuertreppe wurde am Vortag entfernt. Auf dem Dach geht ein Bahn-Mitarbeiter auf und ab. Durch ihn fühlen sich die Teilnehmer der Mahnwache verunsichert. Dübbers erklärt die Bedeutung der beiden Seitenflügel für die Symmetrie des großen Torbogens und weist darauf hin, dass die Wände der Schalterhalle nie als Außenwände geplant waren.

16.45 Uhr
Zahlreiche grüne Schirme werden aufgespannt. Ein Stuttgarter Schirmmacher hat die K-21-Schirme gestaltet, auf der Montagsdemo wurden sie unters Volk gebracht. Wer keinen Schirm oder keine Regenjacke hat, der kommt im Pavillon der Mahnwache unter. Später spendet ein Paar noch zusätzliche Schirme. An der Mahnwache beteiligen sich auch jetzt noch mehr als 20 Menschen.

18.15 Uhr
Vom Parkplatz dringt Geschrei herüber. Ein Taxifahrer und eine Frau streiten sich heftig. Der Taxifahrer erzählt später, sie sei am Hauptbahnhof in das Taxi eingestiegen - und keine fünf Minuten später sei ihr eingefallen, dass ihr Auto am Bahnhof stand. Nachdem Mitglieder der Mahnwache schlichtend eingreifen, beruhigen sich beide Seiten, die Frau steigt jedoch in ihren Mercedes, ohne die Fahrt zu bezahlen. Dieser Zwischenfall bleibt der einzige an diesem Tag.

19.30 Uhr
Es hat aufgehört zu regnen. Eine Stuttgarterin trägt ein selbstgeschriebenes Lied vor, mit dem sie ihre Traurigkeit über den geplanten Abriss des Nordflügels ausdrücken will. Auch am Abend treffen immer wieder neue Unterstützerinnen und Unterstützer ein, wechseln andere ab. Kurz vor 20 Uhr bringt eine Frau noch mal frischen Kaffee. Es sind jetzt immer mehr als ein Dutzend Unterstützer vor Ort.

22.00 Uhr
Jede Schicht braucht einen offiziellen Versammlungsleiter, das ist eine polizeiliche Auflage. Gegen 22 Uhr übernimmt einer der vier, die diese Nacht vor dem Bahnhof verbringen wollen, die Versammlungsleitung. Ein anderer Teilnehmer fährt spontan nach Hause, um seinen Schlafsack zu holen. Auch am späten Abend treffen Unterstützer zur Mahnwache ein. Ein junger Mann, der als Zivildienstleitender im Heidelberger Zoo arbeitet und gerade mit dem Zug angekommen ist, will die kommende Nacht bei der Mahnwache verbringen und schaut sich schon einmal um. Es fängt wieder an zu regnen, man rückt unter dem Pavillon zusammen. Die Gespräche drehen sich auch jetzt noch um Stuttgart 21.

0.15 Uhr
Bis auf die vier Mitglieder der Nachtschicht sind fast alle gegangen. Die letzten S-Bahnen fahren in wenigen Minuten. Die vier Nachtschichtler verkriechen sich in ihre Schlafsäcke und versuchen, es sich auf dem harten Boden einigermaßen gemütlich zu machen. Die Mahnwache ist bis zum 26. Juli genehmigt. Was danach kommt, ist noch völlig offen.