Der Journalist Günter Wallraff glaubt, dass die Amtszeit des türkischen Präsidenten bald beendet wird. Damit steht er weitgehend alleine. Die Journalistin Mesale Tolu erzählt über ihre Zeit im Gefängnis – und warum sie glaubt, in die Türkei zurückkehren zu müssen.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Die Geschichte von Mesale Tolu ist ja nun wirklich hinreichend bekannt. Mehr als sieben Monate lang saß die deutsche Journalistin in türkischen Gefängnissen, zeitweise zusammen mit ihrem zweieinhalb Jahre alten Sohn. Der Vorwurf: angebliche Terrorpropaganda. Vor wenigen Tagen dann landete die Frau auf dem Stuttgarter Flughafen und fuhr zurück in ihre Heimat bei Ulm. Das sind die Tatsachen. Wenn die Betroffene selbst darüber spricht, dann wird den trockenen Daten noch einmal echtes Leben eingehaucht.

 

Am Donnerstagabend durfte ein breites Fernsehpublikum sehen und hören, was es zuvor meist aus der Zeitung gelesen hatte. Sandra Maischberger hatte Mesale Tolu zwar nicht im Studio, aber ein langes Gespräch mit ihr aufgezeichnet. Mesale Tolu berichtet, wie in jenem April 2017 morgens um halb fünf rund ein Dutzend schwer bewaffnete Männer eines Spezialkommandos in ihrer Wohnung stehen, wie sie Stunden lang im Schlafanzug auf dem Sofa lag, während ihr zu Hause durchsucht wurde, wie sie ihren Sohn bei Nachbarn abliefern und zurücklassen musste, bis der Opa kam um ihn zu sich zu nehmen.

Malbuch erlaubt, Buntstifte verboten

Es ist kein sehr emotionales Erzählen, es ist eher schon ein kühler, zurückgelehnter Blick des Journalisten, mit dem Mesale Tolu ihre eigene Geschichte erzählt, wie sie erklärt, der Sohn habe zum Zeitpunkt der Festnahme „Größe gezeigt“ und nicht geweint. Wie sie von der Situation im Gefängnis berichtet, von der Gemeinschaftszelle mit 24 anderen Frauen, in der Spielsachen für den Kleinen verboten waren. Wie sie erklärt, dass Malbücher gestattet waren, aber keine Stifte, und wie man Flaschendeckel im Spiel zu Booten gemacht, und in Wassereimern hat schwimmen lassen.

Ja, sagt Mesale Tolu, sie sei für Frauenrechte auf die Straße gegangen, habe an einer Beerdigung für eine ermordete Aktivistin Teil genommen, und sei in soweit selbst eine Aktivistin. Gleichwohl habe sie sich nie vorstellen können, dass ihr all das widerfahre. „Die Türkei ist kein Rechtsstaat“, sagt Mesale Tolu – und dass sie zu ihrem Prozess im Oktober wohl zurückreise. Sonst könne ihr Mann das Land wohl nie verlassen. Wenn Recep Tayip Erdogan Ende des Monats nach Deutschland komme, und in Berlin mit militärischen Ehren empfangen werde, dann werde die türkische Opposition wohl denken, dass Erdogans Alleinherrschaft anerkannt werde, sagt Mesale Tolu. Und leitet so zum weiteren Thema der Sendung.

Günter Wallraff kritisiert noch am meisten

Der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten wirft Schatten, und Kritiker auf den Plan. Günter Wallraff ist noch der härteste von ihnen. „Zeitpunkt und Form des Besuches sind falsch“, sagt der Enthüllungsjournalist, während der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok darauf verweist, dass Helmut Kohl seinerzeit auch Erich Honecker mit militärischen Ehren empfangen hat. „Wie soll er denn sonst empfangen werden?“, fragt Cigdem Akyol. Die Journalistin, die auch Redakteurin bei der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten ist und unlängst eine eindrückliche Erdogan-Biografie auf den Markt gebracht hat, erklärt, dass die Bundesregierung selbstverständlich den Dialog suchen, und zugleich „den Finger in die Wunde“ legen müsse.

Der Diskussion fehlt ein wenig der Schwung, was zum einen daran liegt, dass sich die Teilnehmer in den Grundzügen alle einig sind. Die Gespräche einzustellen fordert nicht einmal Günter Wallraff, er will nur Vorbedingungen erfüllt sehen. Also wird sehr unaufgeregt geredet, das tut gut – wirklich Neues oder Tiefgreifendes kommt dabei aber nicht über den Bildschirm. Akyol und Brok sind realpolitisch, sehen keine Chance, dass sich Erdogan für seine Nazi-Vergleiche mit Angela Merkel entschuldigen wird. Auch Erkan Arikan, Journalist beim Westdeutschen Rundfunk, tendiert in diese Richtung und verweist darauf, dass es in der Türkei keinen Politiker gebe, der Erdogan derzeit das Wasser reichen könne.

Eine Wette auf die Zukunft

Nach ein wenig semantischem Geplänkel um die Frage, ob Erdogan denn nun als Autokrat, Despot, Macho oder starker Mann zu bezeichnen sei, erklärt Cigdem Aykol, dass Erdogan kein Islamist, aber wohl ein sunnitisch konservativer Moslem sei, und dass sich die türkische Entwicklung abgezeichnet habe. Und sie gibt einen Ausblick: Im Jahr 2023, zum 100-jährigen Geburtstag der modernen Türkei, wolle Erdogan noch Präsident sein. Günter Wallraff bietet eine Wette an, er glaubt, Erdogan sei in zwei bis vier Jahren im Gefängnis oder im Exil. Aykol und Erkan Arikan halten dagegen, der Europapolitiker Brok lässt sich lieber alle Türen offen und legt sich nicht fest.