Tübingens OB Palmer wirbt bei Sandra Maischberger für eine Impfpflicht light und muss sich von Linda Teuteberg (FDP) Geringschätzung der Freiheitsrechte vorwerfen lassen.

Stuttgart - Rhetorisch zündet die betont sachliche FDP-Politikerin Linda Teuteberg nicht unbedingt ein Feuerwerk, aber es gab einen Moment im Streitgespräch zur allgemeinen Impfpflicht bei Sandra Maischberger am Mittwochabend in der ARD mit dem Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (Grüne), wo sie dann doch gottlob etwas aus der Haut fuhr. Das argumentative Setting dieses glasklaren Pro und Kontras von Teuteberg und Palmer war zuvor bereitet worden von Journalisten und der Virologin Helga Rübsamen-Schaeff. Die Wissenschaftlerin und Unternehmerin wies darauf hin, dass es Fälle von Geboosterten gebe, die sich auch infizierten: „Was funktioniert ist der Schutz durch die Impfung von einer schweren Erkrankung. Den Schutz vor der Epidemie aber kann man nicht verimpfen.“ Aber eine Impfpflicht könne trotzdem dazu beitragen, „die Krankenhäuser und Leichenhallen frei zu halten“.

 

Zehn sind geboostert – und alle infiziert

Ähnlich auch die Analyse der FAZ-Journalistin Helene Bubrowski, die aus ihrem Umfeld von „zehn Geboosterten“ berichtete, die sich alle mit Omikron infiziert hätten, da habe es sich um jüngere, gesunde Menschen gehandelt und einer sei für zwei oder drei Wochen im Bett gelandet. „Das Impfen scheint das Problem nicht gänzlich zu lösen.“ Auch der Moderator Jörg Pilawa berichtete von drei positiven Corona-Fällen aus seinem privaten Umfeld, „alle geimpft und geboostert“, aber die Verläufe seien schwach gewesen: „Omikron verändert alles.“ Und Skepsis ließ auch der Autor Markus Feldenkirchen erkennen, der daran erinnerte, wie Anfang oder Mitte Dezember alle relevanten Politiker und politischen Kommentatoren „umgefallen“ seien und sich für eine Impfpflicht ausgesprochen hatten, weil Omikron komme: „Und jetzt haben wir wieder ein Umschwenken, weil wir das Zweitwissen haben, dass Omikron weniger tödlich verläuft als wir angenommen hatten.“

Die FDP-Frau befürchtet „Trotz und Widerstand“

Auf dieser als unsicher geschilderten Lage war es dann erleichternd, mal zwei feste Standpunkte zu hören. Ganz klar zweifelte die Liberale Teuteberg eine allgemeine Impfpflicht an, denn sie sei nicht geeignet, da das Impfen nicht vor der Ansteckung schütze. Sie sei politisch auch unklug, ein falsches Instrument, und sie erschüttere das Vertrauen der Gesellschaft in die Politik. Dieser Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit werde „noch mehr Trotz und Widerstand“ erzeugen, der „Impfangst und der Wut“ sei damit nicht zu begegnen, man schaffe neue Konflikte und werde ein „Vollzugsdefizit“ haben. Im übrigen habe es schon starke juristische Bedenken gegen wesentlich geringere Eingriffe in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gegeben – etwa bei Blutentnahmen oder Röntgenaufnahmen. Da viele Politiker sich früher gegen die Impfpflicht ausgesprochen hatten, werde es einen Vertrauensschaden geben – „dieses Misstrauen in die Politik wird sich auf andere Fragen übertragen“.

Palmer will Impfpflicht ab 60 Jahren

Boris Palmer hingegen setzt auf eine Impfpflicht, denn wenn die nicht komme, dann seien „große Gemeingüter in Gefahr“, es drohten wieder die Überlastung von Krankenhäusern, die Schließung von Schulen, Restaurants und anderen Einrichtungen. „Im übrigen bin ich ein Schwabe. Für uns sind Pflichten etwas Positives.“ Anders als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich für eine Impfpflicht für alle Erwachsenen aussprach, schlägt Palmer die Pflichtimpfung nur für alle über 60 Jahren vor, also eine Pflicht „light“. Es gebe über drei Millionen in dieser vulnerablen Gruppe, die noch nicht geimpft seien. Auch sollte die Pflicht zur Impfung nicht alle halbe Jahr neu erfolgen, bei der zweiten oder dritten Impfung solle sie erfüllt sein. „Mehr Pflichten möchte ich nicht. Wir werden die Infektionswelle nicht stoppen, aber wir können zu 90 Prozent weniger schweren Verläufen kommen.“ Auf die Frage von Sandra Maischberger, ob er denn eine Impfpolizei in Tübingen patroullieren lassen wolle, antwortete Palmer ausweichend. Er sei weder Prinzipienreiter noch Bedenkenträger, und es gehöre zu den typisch deutschen Bedenken nun zu glauben, die Pflicht lasse sich nicht durchsetzen. „Ich kann mir vorstellen, dass wir bei einer Bußgeldandrohung von 5000 Euro in fünf Wochen 98 Prozent Geimpfte haben.“ Ob es eine Beugehaft bei der Nichtzahlung von Bußgeldern gebe, das sei allein eine Sache der Richter.

Linda Teuteberg reißt der Geduldsfaden

Die wetterwendige Haltung der Politiker in Sachen Impfpflicht erklärte Palmer damit, dass Politiker sich auf Veränderungen einstellen und ihre Meinungen auch ändern müssten. Auch Ex-Kanzlerin Angela Merkel sei mal von ihrem Versprechen, es gebe keine Mehrwertsteuererhöhung, abgewichen. Im übrigen sehe er eher „die Wut der Leute“ über die Dysfunktionalität des Staates in der Pandemie-Bekämpfung. Just in dem Moment riss dann bei Linda Teuteberg der Geduldsfaden: „Ich entnehme Ihren Äußerungen eine Geringschätzung der Freiheit und der Freiheitsrechte.“ Man könne nicht ernsthaft eine Gurtpflicht mit der Impfpflicht vergleichen, letztere sei ein schwerer Grundrechtseingriff. Wer das nicht einsehe, dem mangele es an einer differenzierten Betrachtungsweise – ein immerhin kleiner Paukenschlag.