Ein Paar aus dem Kreis Ludwigsburg hat einen Jungen aus schwierigen Verhältnissen aufgenommen, erst befristet, inzwischen dauerhaft. Die beiden sagen: Als Pflegeeltern kann im Grunde jeder in Notlagen einspringen.
Eine kleine Zeitungsnotiz hat das Leben von Martina und Peter Müller (Namen von der Redaktion geändert) für immer geändert. Der Landkreis Ludwigsburg suche händeringend Pflegeeltern, hieß es in der Meldung. Für Kinder, deren leibliche Mütter und Väter nicht in der Lage oder willens sind, sich selbst um den Nachwuchs zu kümmern. Sei es wegen eines Krankenhausaufenthalts, sei es wegen Suchtproblemen. Manchmal muss das Amt ein Kind auch aus einem Haushalt holen, weil dort körperliche Übergriffe an der Tagesordnung sind. „Weil wir Kindern in Not helfen wollten, haben wir uns beim Landratsamt gemeldet. Unsere eigenen Kinder waren aus dem Gröbsten heraus und wir hatten Platz für ein weiteres Kind“, erklärt Peter Müller.
Jetzt, rund zehn Jahre später, kann man sagen: Das war eine der besten Entscheidungen, die er und seine Frau je getroffen haben. Denn diesem Beschluss ist es zu verdanken, dass die Eheleute aus dem Landkreis einen Jungen bei sich aufgenommen haben, der ihnen so ans Herz gewachsen ist, dass er heute ein fester Teil der Familie ist.
Geplant war das allerdings nicht. Pflegeeltern werden zu nichts gezwungen. Sie können wählen, wie alt die Schutzbefohlenen sein sollen. Und sie können bestimmen, ob sie für einen längeren oder lieber einen kürzeren Zeitraum für die Kids da sein wollen. „Wir haben am Anfang gesagt, wie möchten nichts Festes, zumindest nicht in dem Moment“, erklärt Peter Müller. Außerdem wollte man die bestehenden Familienstrukturen nicht sprengen. Zu den seinerzeit sechs beziehungsweise acht Jahre alten eigenen Sprösslingen sollte kein größeres Geschwisterchen stoßen, auch nicht befristet. Die Familie hinterlegte also den Wunsch beim Jugendamt, nur Kleinkinder betreuen zu wollen.
Der erste Kind war vernachlässigt worden
Die erste Kontaktaufnahme vonseiten der Behörde ließ nicht lange auf sich warten. Kaum waren die Müllers im System registriert, erreichte sie die Bitte, einen Jungen in ihre Obhut zu nehmen. Der Bub war 14 Monate alt. „Er war vernachlässigt worden, hatte keine Ansprache bekommen, lag quasi nur im Laufstall“, sagt Martina Müller. „Sein Blick am Anfang war total leer. Als er ein paar Wochen bei uns war, hat er gestrahlt, ist aufgeblüht“, ergänzt ihr Mann. „Das ist auch die Belohnung für Pflegeeltern: wenn sie sehen, dass sich ein Kind gut entwickelt hat“, erklärt seine Frau. Nach einigen Monaten wechselte der Junge zu Dauerpflegeeltern. Bis heute stehe man in Kontakt, betont Martina Müller. „Er hat einen Gendefekt, kann nicht sprechen, hat motorische Beeinträchtigungen, ist aber intelligent, drückt sich über Gebärdensprache aus“, berichtet sie. Seine neuen Eltern hätten sich total auf diese Aufgabe und die Bedürfnisse des Jungen eingelassen.
Die Müllers wollen allerdings keine falschen Vorstellungen wecken. „Jedes der Kinder hat einen Rucksack zu tragen“, konstatiert Peter Müller. Das merkten der 55-jährige Ingenieur und seine Gattin ganz besonders, als sie sich entschieden, auch ältere Mädchen und Jungs in ihre Obhut nehmen zu wollen, und ein Geschwisterpaar von vier und sechs Jahren bei sich begrüßten. Die beiden seien in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem es nur eine Sprache gab: Gewalt, sagt Peter Müller. Man habe den Kindern wie immer so viel Liebe wie möglich geschenkt, doch die beiden hätten ständig provoziert, wohl, um eine gewalttätige Reaktion heraufzubeschwören. „Das war in der Familie nicht auszuhalten“, erklärt er. Man teilte sich schließlich die Betreuung mit anderen Pflegeeltern, ehe die Geschwister anderswo Unterschlupf fanden.
Nach dieser Episode brauchten die Müllers eine kleine Verschnaufpause – ehe das Paar kurz darauf von Bereitschafts- zu Vollzeitpflegeeltern wurden. Das lag an Tom. Er war das zweite Pflegekind, das die Familie im Oktober 2016 betreute. Seine Mutter war suchtkrank. Schon während der Schwangerschaft war klar, dass der Junge bei ihr nicht bleiben konnte. Zehn Wochen war der Knirps alt, als ihn die Müllers bei sich einquartierten. Zehn Monate blieb er, dann war seine leibliche Mama so weit, mit ihm in ein Mutter-Kind-Heim zu ziehen. „Wir wussten, dass das irgendwann passieren würde. Als ich ihn zur Übergabe fuhr, blickte ich aber in den Rückspiegel in sein Gesicht, sah ihn da schlafen und versprach ihm, immer dafür zu sorgen, dass es ihm gut geht“, sagt Martina Müller. Das Kind war ihr extrem ans Herz gewachsen, der Abschied emotional aufwühlend. Noch heute laufen ihr die Tränen über die Wange, wenn sie an den Moment im Auto zurückdenkt.
Und tatsächlich fanden die beiden später wieder zueinander. Dieses Mal wohl für immer. Seine leibliche Mutter sei rückfällig geworden, der Vater ob seiner kriminellen Karriere abgeschoben worden, hätten die Behörden im Mai 2018 mitgeteilt, sagt Martina Müller. Die Lage war allerdings kompliziert, ein anderer Landkreis mittlerweile zuständig. Doch die 43-Jährige klemmte sich ans Telefon, bis sie Tom wieder hatte. „Da haben wir auch entschieden, in die Vollzeitpflege zu wechseln. Es war klar, dass er nicht zu seiner Mutter zurückgeht“, sagt sie.
„Eigentlich ist jeder dafür geeignet“
Seitdem lebt Tom bei den Müllers. Er sagt Mama und Papa zu ihnen, ist vollwertiges Mitglied der Familie. Auf der Notfallliste der Pflegeeltern steht die Familie nun nicht mehr. Martina und Peter Müller hoffen aber, dass ihre Geschichte andere animiert, Kindern in einer prekären Lage beizustehen. „Eigentlich ist jeder dafür geeignet, der einen Platz in seinem Herzen dafür hat“, sagt Peter Müller. Man werde nie sich selbst überlassen, könne auf die Unterstützung des Teams beim Landratsamt bauen. Zudem sei man mit anderen Eltern vernetzt. Und ja: man bekomme dafür auch Geld. Reich werde man davon jedoch nicht. Dafür kann man, mit etwas Glück, wie die Müllers aber vielleicht sogar auf Dauer ein neues Familienmitglied gewinnen.
Landratsamt sucht Pflegeeltern
Kontakt
Pflegeeltern können Kinder zeitlich befristet in der Bereitschaftspflege oder auf Dauer in Vollzeitpflege bei sich aufnehmen. Das Landratsamt Ludwigsburg sucht für beide Bereiche weitere Interessenten. Diese können sich per E-Mail an pflegekinderdienst@landkreis-ludwigsburg oder unter Telefon 0 71 44 / 1 44 20 48 melden. Potenzielle Pflegeeltern werden in Seminaren auf ihre Aufgabe vorbereitet.
Fälle
Im Jahr 2023 wurden im Landkreis 165 Kinder und Jugendliche wegen einer Notlage aus ihren Familien genommen. 110 davon wurden in Inobhutnahmegruppen untergebracht, 55 in Bereitschaftspflegefamilien. In der Regel kehrt die Hälfte der Heranwachsenden aus den Gruppen später zu den Sorgeberechtigten zurück, etwas mehr als 30 Prozent werden in einer Pflegefamilie oder Einrichtung untergebracht. „Bei den weiteren Kindern und Jugendlichen handelt es sich beispielsweise um Fälle, in denen die Familien eine ambulante Unterstützung erhalten“, erklärt das Landratsamt. Von den 55 Kindern aus den Bereitschaftspflegefamilien verbleibe ein Teil, unter anderem wegen offener Verfahren, dort oder komme in eine Vollzeitpflegefamilie.