Ein flottes Wort ist schnell gefunden. Doch was meint Winfried Kretschmann, wenn er ein „Gesellschaftsministerium“ aus der Taufe hebt? Ressortchef Manfred Lucha sucht Antworten.

Stuttgart - In der Politik ist es wichtig, Begriffe zu besetzen. Wer Worte und deren Bedeutung prägt, setzt seine Politik durch. CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf hat dies Anfang der 1970er-Jahre erkannt, in einer Zeit, in der die CDU am Boden lag und die sprachgewandte 68er-Generation die Debatten bestimmte. „Revolutionen finden heute auf andere Weise statt“, sagte Biedenkopf 1973 auf dem Hamburger CDU-Bundesparteitag. „Statt der Gebäude der Regierung werden die Begriffe besetzt, mit denen sie regiert, die Begriffe, mit denen wir unsere staatliche Ordnung, unsere Rechte und Pflichten und Institutionen beschreiben.“

 

Auch die Grünen, eine Akademikerpartei von Anbeginn, verstehen sich auf den Umgang mit der Sprache. „Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben“ lautete die Botschaft, mit der Fritz Kuhn in seinen Wahlkämpfen herausstreichen wollte, dass die Grünen auch etwas von Wirtschaft verstünden. Winfried Kretschmann blieb in dieser Spur. In der ersten Phase seiner Ministerpräsidentschaft setzte er Orientierungsbegriffe wie Zivilgesellschaft oder Bürgerbeteiligung. Wortprägungen, die vor dem Hintergrund des Streits um Stuttgart 21 die Grünen als Partei konturieren sollten, die den Staat öffnet für eine auf Transparenz und Mitsprache bedachte kritische Bürgerschaft. Machtpolitisch etabliert, machte sich Kretschmann sodann daran, die Deutungshoheit der Grünen auf den Markenkern der CDU auszudehnen. Er rief 2014 die Grünen kurzerhand zur „neuen Wirtschaftspartei“ aus, welche das Erbe der „alten Wirtschaftspartei“ CDU mit frischer Kraft fortführe. Ein Jahr später drang er sogar ins Allerheiligste der Südwest-CDU vor und erklärte die Grünen zur „Baden-Württemberg-Partei“.

Weites Herz und flinke Zunge

Kretschmanns Regierungserklärung zur Digitalisierung vom Oktober 2014 schlug den Dreiklang „Heimat, High Tech, High Speed“ im Titel an – inspiriert vom bayerischen PR-Klassiker „Laptop und Lederhosen“. In seiner Regierungserklärung nach der Landtagswahl malte er Grün-Schwarz als „im besten Sinne bürgerliche Koalition“, eine Wendung, mit der er jeden Verdacht ausräumen will, die Grünen könnten irgendwie links sein. Und dann erfand er für das neu fusionierte Sozial- und Integrationsministerium gleich noch den zwar nicht amtlichen, aber profilbildenden Begriff des „Gesellschaftsministeriums“, das sich „neben den klassischen sozialen Fragen auch um die Frage der Integration und der kulturellen Identität kümmern“ soll: ein „Ministerium für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Der Begriff Gesellschaftsministerium hinterlegt den Anspruch, Gesellschaftspolitik zu betreiben. Er bringt einen gestalterischen Willen und einen emanzipativen Ansatz zum Ausdruck. Das klingt anspruchsvoll. Aber steckt auch was dahinter?

Manfred Lucha, Kretschmanns Mann fürs Gesellschaftsministerium, hat ein weites Herz und eine flinke Zunge, mit der er – bei einem baden-württembergischen Landesminister noch gewöhnungsbedürftig – sein oberbayerisches Idiom selbstbewusst zur Geltung bringt. Der Grünen-Politiker nennt sich einen „Sprechingenieur“, also einen, der mit Begriffen umzugehen weiß. Herr Lucha, was ist denn der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält?

Selbst empfundene Bedeutungslosigkeit

„Dass sich die Menschen respektiert fühlen“, lautet seine Antwort, „dass sie sich angesprochen und wertgeschätzt fühlen. Dass sie merken, dass die Politik etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Und dass sie nicht verschwinden in der selbst empfundenen Bedeutungslosigkeit.“ Der 55-Jährige verweist auf die vielen Nichtwähler, die bei der Landtagswahl entgegen ihrer Gewohnheit in die Wahlkabinen eilten – um ihr Kreuz bei der AfD zu setzen. Da habe sich das Gefühl, nicht gehört worden zu sein, in Protest verwandelt, findet Lucha. Politik müsse „aus Betroffenen wieder Beteiligte machen“. Das gelinge, „wenn die Menschen merken, dass sich Engagement lohnt“. Luchas Credo lautet: „Vor dem Staat sind alle gleich. Jeder leistet seinen Beitrag. Jeder kann Einfluss nehmen.“

Das ist schön gesagt. Lucha kann sogar, als er dies sagt, ein gutes Beispiel vorweisen. Er besucht in Schwäbisch Gmünd die Lernwerkstatt für Flüchtlinge, ein Vorzeigeprojekt zur beruflichen Vorqualifizierung von Asylbewerbern, das von Ehrenamtlichen getragen wird. Der Sozialminister lobt und preist, er überreicht eine Urkunde des Bundespräsidenten, und er redet über die Bedeutung der Arbeit, die nicht nur die materielle Existenz des Menschen sichere, sondern Selbstwert vermittle und den Kern seiner Persönlichkeit berühre.

Ehrenamt und Hauptamt

In den Koalitionsverhandlungen verlor Lucha allerdings den Bereich Arbeit an das CDU-geführte Wirtschaftsministerium. Dafür bekam er einen Teil des aufgelösten Integrationsministeriums. Lucha führt ein „Gesellschaftsministerium“, das für den neben der Familie wichtigsten gesellschaftlichen Bereich, die Arbeit, gar nicht zuständig ist. An dieser Stelle hat er ein Problem.

Es bleibt ihm ein bunter Mix aus Krankenhäusern, Gesundheitsschutz und Familienpolitik. Und das Ehrenamt. Die Flüchtlingskrise setzt unerwartete Kräfte des bürgerschaftlichen Engagements frei. Lucha will sie weiter zur Entfaltung bringen, bekommt bei seinem Besuch in Schwäbisch Gmünd aber auch gesagt, dass der Staat nicht zu viel „aufs Ehrenamt abwälzen“ dürfe. Das sieht auch der Minister ein. „Das Ehrenamt darf kein billiger Ersatz fürs Hauptamt sein“, räumt er ein.

Lucha schaut aufs Ganze, und versucht daraus seine Politik abzuleiten. Er sagt: „Der Umbau des Wohlfahrtsstaats durch Wettbewerb, Privatisierung, Globalisierung und Technologie stellt die Frage von Solidarität und Gerechtigkeit neu, schärfer und polarisierend.“ Die Folge sei Verunsicherung. „Nichts bleibt, wie es war. Die Änderungen geschehen rasend. Es grassiert das Misstrauen, zu wessen Gunsten dies geschieht.“ Als Minister sieht Lucha seine Aufgabe darin, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen: für Flüchtlinge, aber auch für Alte, Junge, Kranke, Menschen mit Behinderungen. Er nennt das „Zugehörigkeitspolitik“. Denn dazu gehören, das wollten doch alle. Das ist sein Verständnis eines Gesellschaftsministeriums. Begrifflich hat er sein neues Aufgabengebiet besetzt. Jetzt muss er noch was daraus machen.