Manfred Naegele hat in den 70ern Schlagermusik veräppelt, die RAF-Prozesse begleitet und mit Friedrich Dürrenmatt gespeist. Nun hat er ein Buch geschrieben.

Stuttgart-Plieningen - Maria ist schuld, dass Manfred Naegele zum Fernsehen gekommen ist. Noch heute huscht dem 73-Jährigen ein Lächeln übers Gesicht, wenn er von jener Begebenheit im Jahr 1969 erzählt. Vor den Toren Tübingens, auf einer blühenden Wiese war es, als Naegele mit einem Freund zusammen dessen Geburtstag ausrichtete. Dazu grillten sie Maria – ein biologisches Spanferkel, das die Festgesellschaft lästerlich auf den Namen der Gottesmutter getauft hatte.

 

Jenes Spanferkel freilich mundete trotz seines despektierlichen Namens den Geburtstagsgästen so sehr, dass sie Manfred Naegele spontan einluden, bei ihnen vorbeizukommen. Das tat der junge Rechtsreferendar ein paar Wochen später tatsächlich – und es war um Naegele geschehen. Denn jene Gäste der Grillparty waren veritable Fernsehfritzen gewesen, angeführt von Ulrich Kienzle, damals Redaktionsleiter der Abendschau, die im Süddeutschen Rundfunk (SDR) lief. Naegele produzierte spontan einen Beitrag über eine englische Popgruppe, die er in einem Stocherkahn über den Neckar fahren ließ. Der Beitrag wurde für gut befunden, und wenig später war Naegele SDR-Journalist.

„So etwas wäre heute völlig undenkbar“, sagt Naegele, der seit vielen Jahren ganz oben im Asemwald wohnt und nirgendwo anders leben will. Vor Kurzem hat er in einer Sendung im Dritten über seine Erlebnisse gesprochen, und über seine bewegten Zeiten beim SDR hat er auch schon ein Buch mit dem Titel „Bildschirmverstörung“ geschrieben, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Nicht nur sein Werdegang sei ungewöhnlich gewesen. „Auch die Art, Fernsehen zu machen, war damals freier“, sagt der elegant gekleidete, ältere Herr, der seine Zeit heute am liebsten in Cafés verbringt oder an Büchern arbeitet.

Es ging nicht immer lässig in Manfred Naegeles Berufsleben zu

Was Naegele zunächst gemacht hat, dürfte auf jeden Fall in die Kategorie „vogelwild“ fallen. Der junge Journalist, der einst aus dem oberschwäbischen Mengen so seriös in die Welt hinausgezogen war, um die Juristerei zu studieren, genoss beim Fernsehen zu Beginn der 70er Jahre nämlich fast so etwas wie Narrenfreiheit. In einer eigenen Rubrik in der Abendschau durfte er samstagabends das tun, was vielen jungen Leuten aus der Seele gesprochen haben dürfte: nach Herzenslust über deutsche Schlager herziehen.

Während im ZDF Dieter Thomas Heck notorisch euphorisch die Stars am Schlagerhimmel hochleben ließ, gefiel sich Manfred Naegele in allerlei schrägen Verkleidungen darin, genau diese Begeisterung zu karikieren. Etwa, indem er die Kicker der Nationalmannschaft, die 1974 zur WM ebenso schräg wie erfolgreich das Lied „Fußball ist unser Leben“ intoniert hatten, in einem kurzen Videoclip symbolisch mit faulen Eiern und Tomaten bewarf. Das brachte dem Mann mit der langen schwarzen Mähne und dem Schnauzer beileibe nicht nur Freunde: Ein Zuschauer etwa teilte dem „Schlagerschänder“ am Telefon mit, dass man einen wie ihn „mit einem feuchten Putzlappen ganz langsam totschlagen“ solle. So ist es in Naegeles Buch nachzulesen, so erzählt es der inzwischen weißhaarige Mann mit Nickelbrille lächelnd, während er sich in einem Degerlocher Café die nächste seiner vielen Zigaretten anzündet, von denen er ebenso wenig lassen kann wie von Espresso und italienischem Rotwein.

Ganz so lässig freilich ging es in Manfred Naegeles Berufsleben nicht immer zu. 1975 wurde er dazu bestimmt, die Berichterstattung des SDR und damit auch der Tagesschau über den Baader-Meinhof-Prozess in Stammheim zu übernehmen, „weil ich als einziger in der Redaktion Jurist mit Staatsexamen war“, wie Naegele im Rückblick sagt. Dem vorausgegangen waren etliche Terrorakte der RAF, die die Republik in Angst und Schrecken versetzt hatten.

Den RAF-Terroristen hat sich Naegele nie verbunden gefühlt

Sein Auftritt mit Schlaghose, Plateauschuhen und Pelzmantel als Gerichtsreporter muss in jener aufgeregten Zeit wie eine Provokation in Reinform gewirkt haben. „Die eigenen Kollegen der Tagesschau haben mich wegen meines Aussehens als ‚Zuhälter aus dem Rotlichtmilieu‘ bezeichnet. Außerdem galt ich als verdächtig“, erzählt Naegele, der während seiner Zeit als Berichterstatter immer mal wieder in Kontakt mit den Anwälten der Terroristen war. Eine Zeit lang sei sogar sein Telefon überwacht worden, da ist sich Naegele ziemlich sicher.

Trotzdem ist er für den SDR vor Ort geblieben, um zu berichten. Und auch wenn es seine unkonventionelle Kleidung und seine mitunter harsche Kritik an einer rigiden Justiz und Politik nahegelegt haben mögen: Den RAF-Terroristen hat sich Naegele nie verbunden gefühlt. „Das, wofür sie angeklagt waren, war furchtbar“, sagt er. „Es war Mord und Terrorismus im schlimmsten Sinn.“ Auch das Auftreten der Angeklagten, allen voran Andreas Baader, den Naegele als „sehr unangenehmen Menschen“ beschreibt, hat dem jungen Gerichtsreporter seinerzeit zu schaffen gemacht: „Die Richter und Staatsanwälte, die sich das anhören mussten, taten mir leid. Mich hat das entsetzt und angeekelt.“

Als Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe nach der aus ihrer Sicht missglückten Entführung des Flugzeugs Landshut letztlich in der sogenannten Todesnacht von Stammheim am 18. Oktober 1977 gemeinschaftlich Selbstmord begingen, hat Naegele auch das miterlebt und als Berichterstatter begleitet – mehr oder minder widerwillig, denn über diese Zeit sagt er: „Das hat mich auch ein Stück weit psychisch überfordert.“

Naegele verärgerte den Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki

Den damaligen baden-württembergischen Justizminister Traugott Bender fragte Naegele nach dem Vorfall zwar live auf Sendung rundheraus, was noch passieren müsse, damit er zurücktrete. Denn die schlechte Informationspolitik der Behörden hatte den Reporter geärgert. Trotzdem beharrt Naegele auch heute noch auf der Integrität der Staatsmacht: „Ich habe nie daran geglaubt, dass die Terroristen umgebracht oder zum Selbstmord gezwungen wurden.“ Politik und Justiz seien damals eben auch überfordert gewesen, was man an deren Reaktionen gemerkt habe, glaubt Naegele.

Ihre letzte Ruhe haben die Terroristen schließlich auf dem Dornhaldenfriedhof gefunden, auf Bestreben des damaligen Stuttgarter Oberbürgermeisters Manfred Rommel. Naegele findet das honorig. Denn obwohl die Vorfälle im heißen Herbst 1977 dem jungen Journalisten so zusetzten, dass er beschloss, hernach nie mehr als politischer Berichterstatter in Erscheinung zu treten, so hat er seinen Frieden mit der RAF doch gemacht. Das Grab von Baader, Ensslin und Raspe hat Manfred Naegele jedenfalls später noch einmal besucht – ganz im Sinne des Rommelschen Leitspruchs „Mit dem Tod hört alle Feindschaft auf.“

Wesentlich entspannter, wenn auch nicht immer ganz einfach waren da schon die vielen Erfahrungen mit Prominenten, die Naegele in seiner Zeit nach der RAF-Berichterstattung als Leiter des Programmbereichs „Kultur und Gesellschaft“ beim SDR machte. Die Treffen mit Künstlern und Kulturschaffenden in den 70ern und 80ern, die Naegele auch in seinem Buch beschreibt, liest sich wie ein Who’s who jener Zeit. So erlebte Naegele einen Auftritt der Pop-Art-Ikone Andy Warhol auf dem Killesberg, er verärgerte den Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki, indem er diesen zwang, immer dann ein Fünfmarkstück in ein Sparschwein zu werfen, wenn er die anderen Gäste in einer Talkrunde zu wenig zu Wort kommen ließ, und er meisterte eine legendäre Live-Sendung mit dem österreichischen Chansonnier und Aktionskünstler André Heller, der sich weigerte, auch nur ein einziges Wort mit Naegele zu sprechen und sein Schweigen bis zum Ende der Sendung eisern durchhielt.

Naegele hat beim Fernsehen sein persönliches Glück gefunden

Mit Friedrich Dürrenmatt verband Naegele bis zum Tod des Schweizer Schriftstellers eine gute Freundschaft. Die führte den SDR-Journalisten unter anderem auch zum Abendessen samt Fachsimpelei über französische Rotweine in Dürrenmatts Haus. Und auch über die Begegnungen mit Max Frisch oder dem Zigarren-Baron Zino Davidoff, der sich – obwohl viel älter – beim gemeinsamen Trinkgelage von Naegele als Sohn adoptieren ließ, plaudert der 73-Jährige gerne.

Ob er heute noch einmal beim Fernsehen anheuern würde, wo er bis zur Rente geblieben ist? Manfred Naegele überlegt lange, bevor er diese Frage beantwortet. „Mit meinen damaligen Voraussetzungen hätte ich ohnehin keine Chance mehr“, sagt er schließlich. Wer weiß, ob seine unkonventionelle Art, auf Menschen zuzugehen, überhaupt gewünscht wäre. „Ich weiß nicht, ob ich ein so zähmbarer Journalist wäre, wie ich sein sollte“, sagt er und lächelt. Wegen einer Begegnung aber würde es sich vielleicht doch lohnen. Immerhin hat Naegele beim Fernsehen sein persönliches Glück gefunden: Seine Frau Renate lernte er einst kennen, als er mit ihr eine Verballhornung des Schlagers „Butterfly“ drehte. Das Leben schreibt eben manchmal doch die schönsten Geschichten.