Manfred Rühle ist in der Wilhelma aufgewachsen. heute bewahrt er in seinem Haus in Weinstadt-Gundelsbach Andenken aus dieser Zeit auf.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Stuttgart/Weinstadt Das Haus ist ein Palast der Erinnerungen. Ordner, Zeitungen und lose Blätter bedecken den schweren Esstisch. Die Wände sind dicht behängt mit Regalen, Kunstwerken von Dalí, Miró, Kandinsky. Gusseiserne Bullen und Kälber im Afrika-Stil zieren die Vitrinen, daneben ein Sessel aus prallem Treibholz. Aus der Wand wachsen prachtvolle Geweihe und halbe Hirsche, die der Hausbesitzer erlegt hat.

 

Manfred Rühle ist Jäger und Sammler. Sein Basislager ist hier, dieses imposante Wohnhaus in den Weinbergen in dem kleinen Weiler Gundelsbach bei Weinstadt im Rems-Murr-Kreis. Vorne öffnet es sich mit einer beeindruckenden Glasfront hin zu alten Baumwipfeln. „Jeder Mensch verdient ein Museum“, schreibt Martin Walser in seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“. Das hier ist Manfred Rühles Museum. Ihm geht nichts verloren. Seine Sammlung ist eine Wucht. Heute lebt doch fast niemand mehr, der all das bezeugen könnte! Deshalb hebt Manfred Rühle alles auf, legt Ordner an, klebt Fotos, Rechnungen, Notizen, eben all die Erinnerungen ein, fast manisch schon. Nichts wirft er weg. Und immer hat er etwas zu erzählen.

Vor knapp 78 Jahren wird Manfred Rühle in der Stuttgarter Wilhelma geboren. Seine Großeltern sind zu dieser Zeit bereits seit den 1880er Jahren die Verwalter des botanischen Gartens und des Theaters. Sie verkaufen die Karten, halten alles in Schuss. In einem Kavaliershäuschen am Wilhelmaplatz wachsen die Mitglieder der Familie Rühle noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Manfred Rühles Mutter ist eine großbürgerliche Malerin aus Berlin, die „einen Schwob aus dr Wilhelma“ geheiratet hat. Als später die Tiere in Cannstatt einziehen, spielt der junge Manfred mit den ersten Löwen im Zoo oder sitzt nachmittags auf den Riesenblättern der Victoria-Regia-Seerosen am Mittleren See.

Schlafen wäre Zeitverschwendung

Manfred Rühle schlägt hastig einen großen Ordner auf. Er hat die vergangenen drei Nächte nicht geruht. Schlafen wäre Zeitverschwendung. Er muss weiter an der Konservierung des Lebens arbeiten, heute möchte er die Geschichte seiner Familie erzählen. Er klopft mit dem Finger auf ein Foto. Das da ist seine Tante Hedwig, blondschopfig amerikanisch, sie starb mit 103 Jahren in San Francisco. Am 28. Oktober 1923 war Hedwig mit dem Dampfer Yorck von Bremen in die USA ausgewandert. Manfred Rühle hat die Speisekarte dieser Überfahrt vor mehr als 90 Jahren: An Bord gab es Ölsardinen und Perlzwiebeln, Roastbeef mit Bratensaft. Eine Kapelle spielte den „Venetianer Marsch“ und „Träume auf dem Ozean“, einen Walzer. Die blutjunge Hedwig ließ die Eltern und die Brüder in der Stuttgarter Wilhelma zurück, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Erst 1987 sollte sie noch einmal zurückkehren, zur späten Wiedereröffnung des Wilhelma-Theaters. Die Stuttgarter Zeitung schrieb: „Das Theater hat wie durch ein Wunder die Wirrnisse der 147 Jahre seit seiner Eröffnung gut überstanden.“

Manfred Rühle glaubt, ohne seine Familie, vor allem seine Großmutter Emilie, stünde das Theater nicht mehr. So gut sie konnte, schützte die resolute Frau die Wilhelma in den Kriegen. Manfred Rühle erinnert sich, wie Emilie 1944 in ihrer Schürze Brandbomben von Fliegerangriffen im Park einsammelte und sie in den Neckar warf. Während einer dieser Rettungen brannte ihre eigene Wohnung im Kavaliershäuschen ab. Jahre später fragte ihre Tochter Hedwig sie, wieso sie anstatt der Wilhelma nicht ihre Wohnung gerettet habe. Doch daran dachte Emilie erst an zweiter Stelle.

Manfred Rühles Tante Hedwig war lange Zeit das Bindeglied zu einer vergangenen Zeit. Auch das machte sie wertvoll für den Neffen, der sie oft in San Francisco besuchte. Hedwig konnte sich an viele Geschichten erinnern.

Das Leben als Verlustrechnung

Manfred Rühle versucht, sie alle aufzuschreiben. Vergangene Nacht hat er sieben Seiten Text in den Computer getippt, auch diese Geschichte: Der König ließ zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der ersten Telefone in Cannstatt im Wilhelma-Theater einrichten – damit die „vornehmen Herren“ anrufen und Karten bestellen konnten. Manfred Rühles Großvater Wilhelm bekam jedes Mal das große Schlottern, wenn das neue Telefon schellte: Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, in Stuttgart wird geschwätzt, und sechs Kilometer weiter in Cannstatt hört man es wie geistergesteuert! Schließlich musste die zwölfjährige Hedwig die Teufelsarbeit erledigen und das Telefon abnehmen. Die moderne Technik war nichts für die Alten. Manfred Rühle lacht, wenn er diese Geschichten erzählt.

Warum beschäftigt er sich so intensiv mit dem, was einmal war? Vielleicht betrachtet Manfred Rühle das Leben als Verlustrechnung: Wer kennt nicht jene Beklemmung, wenn die Zeit verstreicht? Wenn Menschen verschwinden, als hätte es sie nie gegeben? Wenn die Erinnerungen verblassen? Manfred Rühles Privatarchiv ist sein Schatz. Das Museum seines Lebens. Und die Arbeit wird nicht weniger, sondern immer mehr. Die Zeit verrinnt, er kann ihr nur hinterherjagen.

Der Krieg hinterließ bei Manfred Rühle eine Wunde. Was er als Kind erlebte, hat er penibel aufgeschrieben: Es ist kurz vor Kriegsende in Cannstatt, und Manfred Rühle fast acht Jahre alt. Die Rosensteinbrücke ist gesprengt und liegt im Neckar. In letzter Verzweiflung haben die Gauleiter auch in Stuttgart einen Volkssturm organisiert. Viele französische Kriegsgefangene haben in den letzten Kriegsjahren im Wilhelma-Theater geschlafen. Emilie gibt ihnen manchmal Socken und Kleidung. Oft auch einen Muckefuck-Kaffee vom Zichorien-Franck aus Ludwigsburg. Nicht jeder Cannstatter sieht es gern, wenn die alte Frau dem „Erbfeind“ hilft. Einer sagt: „Rühle, du alte Schlampe, du gehst bald wie die Juden durch’s Kamin naus.“

Schnörkellosen Zirkelschluss

Die Erinnerungen sind wild gewordene Bilder in Manfred Rühles Kopf. Einen schrecklichen Nachmittag wird er nicht vergessen: Nach Auseinandersetzungen der Franzosen mit dem Volkssturm müssen rund 300 Cannstatter an der Arkade des Wilhelma-Theaters mit dem Gesicht zur Wand auf ihre Erschießung warten. Darunter sind auch der achtjährige Manfred und seine Familie. In diesen Todesminuten heckt die Großmutter einen kühnen Plan aus. Drei verwundete Franzosen waren von einem Cannstatter Arzt wie Vieh in den Neckar geworfen worden – wenn ihre geschändeten Leichen wieder gefunden würden, vielleicht ließen die Franzosen die Cannstatter dann unbeschadet gehen.

Bei der Offenburger Staffel in der Züricher Straße steht ein schwerer Holznachen. Die alte Frau zerrt das Boot zusammen mit einigen Helfern mit dem Leiterwagen über das Schlangenbückele. Unten am Neckar, „dort, wo heute die Schiffsanlegestelle von Epples Weißer Flotte ist“, lässt Emilie Rühle das Boot ins Wasser. Mit dem Feuerhaken der Wilhelma paddelt die Frau auf dem Fluss umher und bringt einige Zeit später die erste Leiche an Land, bald noch weitere. Aufatmen. Die Cannstatter dürfen gehen. Das ist eines jener Kriegserlebnisse, das wohl niemand je vergessen konnte. Auch Manfred Rühle schüttelt es noch heute.

Er hat vor jene sieben Seiten Text, die er in der vergangenen Nacht abgetippt hat, einen Satz notiert und dunkelrot unterstrichen: „Es sind Erinnerungen, die Authentizität ist aber gewährleistet durch meine Erinnerungen.“ Und wer könnte diesem schnörkellosen Zirkelschluss widersprechen? Wer das Gegenteil beweisen? Und wäre dann nicht dennoch alles wahr? Wer entscheidet, welche Geschichten immer wieder erzählt und welche sofort vergessen werden? Ist nicht jeder Mensch es wert, dass jemand ihn bewahrt?

Rühle wird zum Weltenbummler

Nach dem Krieg geht es endlich aufwärts für den jungen Manfred aus der Stuttgarter Wilhelma. Er steigt in die Firma seines Vaters ein und verdient mit Gabionen viel Geld. Auf der ganzen Welt baut er diese Mauern aus Drahtgestellen und Steinen. Bei seinen Reisen erlebt Manfred Rühle Unglaubliches, die Erinnerungsstücke füllen heute seine Regale. Er lässt dem nigerianischen Prinzen einen See anlegen, schlägt sich zum Nordpol durch, entdeckt Alaska und Australien mit einem Zelt auf dem Autodach.

In den 60er Jahren lernt Manfred Rühle in Afghanistan ein blühendes, offenes Land mit faszinierenden Menschen kennen. „Auf 4000 Meter Höhe wächst da Weizen!“ Dubai sieht er das erste Mal, als die Scheichs noch in Zelten leben. Später ist er dort zu Hochzeiten eingeladen, die fünf Tage dauern. Alles dokumentiert er mit Fotos, Zetteln, Karten.

Rühles Freunde sagen: „Kauf dir doch ein Anwesen in Kapstadt. Oder in San Francisco.“ Ach was, Rühle winkt ab. „I muss zu meine Weinberg“, sagt er und lässt das Haus in Gundelsbach bauen, heiratet, bekommt eine Tochter. Mit Stuttgart ist er noch nicht fertig. Auch Tante Hedwig kommt Ende des Jahrtausends noch einmal in die alte Heimat, feiert ihren hundertsten Geburtstag. Den Rollator lässt sie zu Hause. Und trinkt bei ihrem Ehrenfest 13 Gläser Champagner.

Eine Spur, die nicht verwischt

Manfred Rühle wünscht sich heute nichts so sehr wie eine Spur, die nicht verwischt. Eine Gedenktafel in der Wilhelma für seine Großmutter Emilie vielleicht, für alles, was sie für den Botanischen Garten und das alte Cannstatter Theater getan hat.

Für die alte Frau geht es nach dem Krieg nicht mehr aufwärts, in der modernen Wilhelma gibt es für sie nichts zu tun. Emilie ist vom Krieg verstört, schläft mit einem Beil neben dem Kopfkissen. Schon bald liegt sie in einer Anstalt in Stetten. Ihr Enkel sieht sie dort zum letzten Mal. Emilie Rühle ist an Händen und Beinen an ein Gitterbett gebunden.