Als Kritiker war er geehrt und gefürchtet zugleich. Seine Autobiografie mit der Schilderung der Flucht aus dem Warschauer Ghetto wurde zum Bestseller. Marcel Reich-Ranicki ist im Alter von 93 Jahren gestorben.

Frankfurt/Main - Deutschland berühmtester Literaturkritiker ist tot. Marcel Reich-Ranicki starb am Mittwoch in Frankfurt im Alter von 93 Jahren. Dies teilte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit, für die er lange arbeitete. Der scharfzüngige „MRR“, der in Polen als Sohn einer jüdischen Familie geboren wurde, wuchs in Berlin auf. Zusammen mit seiner Frau überlebte er das Warschauer Ghetto und kehrte 1958 nach Deutschland zurück. Für seine Arbeit wurde Reich-Ranicki mit Ehrungen überhäuft.

 

Im März 2013 hatte der seit längerem gesundheitlich angeschlagene Reich-Ranicki seine Krebserkrankung öffentlich gemacht. Seine Frau Teofila starb bereits im April 2011 im Alter von 91 Jahren.

Der „FAZ“-Mitherausgeber Frank Schirrmacher twitterte am Mittwochnachmittag: „Wir trauern alle. Noch vor 2 Stunden habe ich ihn besucht.“

Einem Millionenpublikum wurde der Kritiker vor allem mit der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ bekannt, die er seit 1988 fast 14 Jahre lang moderierte. Neben zahlreichen anderen Büchern veröffentlichte „MRR“ 1999 seine Autobiografie „Mein Leben“, die zum Bestseller wurde. Das Buch wurde nach Verlagsangaben mehr als 1,2 Millionen Mal verkauft.

Legendäre öffentliche Kontroversen mit Grass oder Walser

Noch bis ins hohe Alter gab der wortgewaltige „MRR“ in der Literaturszene den Ton an. Bis zuletzt veröffentlichte er Kolumnen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Legendär wurden seine öffentliche Kontroversen mit prominenten Schriftstellern wie Günter Grass oder Martin Walser. Im Oktober 2008 entfachte er eine Debatte über das Niveau im deutschen Fernsehen, als er im ZDF vor laufenden Kameras den Deutschen Fernsehpreis ablehnte und den „täglichen Blödsinn“ im TV kritisierte.

1995 ließ „MRR“ in einem Verriss im „Spiegel“ und im Fernsehen kein gutes Haar an Grass' neuem Buch „Ein weites Feld“. Damit trat er eine hoch emotionale Debatte über die Frage los, wie weit Literaturkritik gehen darf. MRR“ teilte jedoch als Kritiker nicht nur aus: Er musste auch viel einstecken. Mitte der 1990er Jahre sah er gezwungen, seine Rolle im kommunistischen Polen nach dem Zweiten Weltkrieg und seine Tätigkeit für den Geheimdienst zu verteidigen.

Martin Walser, den mit Reich-Ranicki eine in der Öffentlichkeit heftig ausgelebte Abneigung verband, veröffentlichte 2002 einen Roman unter dem Titel „Tod eines Kritikers“ (2002). „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher wertete das als Abrechnung mit dem Literaturbetrieb gedachte Buch als „Exekution“ Reich-Ranickis. Trotz der Vorwürfe, das Buch bediene antisemitische Klischees, veröffentlichte der Suhrkamp Verlag den Roman. Eine Aussöhnung mit Walser kam nie zustande. Reich-Ranicki hatte an seinem 90. Geburtstag nochmals auf einer Entschuldigung des Schriftstellers bestanden.

Marcel Reich wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel geboren. Sein Vater David war Kaufmann und polnischer Jude, seine Mutter Helene war deutsche Jüdin. Reich ging 1929 nach dem Konkurs der väterlichen Fabrik mit der Familie nach Berlin. Nach dem Abitur wurde er 1938 nach Polen ausgewiesen. Aus dem Warschauer Ghetto konnte er 1943 zusammen mit seiner Frau Teofila („Tosia“) fliehen. Beide überlebten den Holocaust im Untergrund.

Nach dem Krieg war „MRR“ Mitglied des polnischen Geheimdienstes und zeitweise polnischer Generalkonsul in London, wo er auch den Namen „Ranicki“ zusätzlich annahm. Er kehrte im Herbst 1949 nach Warschau zurück. Wenig später wurde er aus der Kommunistischen Partei wegen „ideologischer Fremdheit“ ausgeschlossen.

Bei der FAZ als Kritiker und Redakteur

Im Jahr 1958 ließ sich Reich-Ranicki für immer in Deutschland nieder. In Hamburg war er von 1960 an Literaturkritiker der Wochenzeitung „Die Zeit“. 1973 ging er mit Joachim Fest zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und leitete dort bis 1988 die Literatur-Redaktion. Bis zuletzt arbeitete er jedoch weiter für die „FAZ“ als Kritiker und Redakteur der „Frankfurter Anthologie“.

Im August 2006 erklärte „MRR“ seinen endgültigen Abschied vom „Literarischen Quartett“, in dem er zuletzt noch in Sondersendungen mitwirkte. Ein halbes Jahr zuvor war er nach einer Sendung zum 150. Todestag von Heinrich Heine, einem seiner Lieblingsautoren, mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert worden.

Reich-Ranicki, der unter den Nazis nicht studieren durfte, erhielt für seine Arbeit zahlreiche Ehrungen und neun Ehrendoktorwürden - zuletzt von der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Tel Aviv. In der israelischen Stadt wurde außerdem ein nach Reich-Ranicki benannter Lehrstuhl für deutsche Literatur eingerichtet.

Mit seiner um wenige Monate älteren Frau „Tosia“, die ihren Mann im Warschauer Ghetto kennenlernte, war „MRR“ rund sieben Jahrzehnte verheiratet. Das Paar lebte seit über 30 Jahren in Frankfurt. Der Tod seiner Frau im April 2011 war ein schwerer Schlag für Reich-Ranicki. Der einzige Sohn des Paares Andrew lehrt Mathematik an der Universität Edinburgh in Schottland.