Haben Sie sich denn als Material empfunden oder als Mitgestalterin einer Choreografie?
Es ist nicht meine Aufgabe, den Choreografen meine Ideen aufzuzwängen. Ich bin vielmehr ganz Ohr. Ganz Auge. Bei Cranko hat eine Handbewegung genügt, um mir bewusst zu machen, was er wollte. Und ich wollte Crankos Julia sein – nicht die Julia eines William Shakespeare. Ich habe mein Ego hintangestellt, war mir aber sicher, dass es irgendwann wieder zu seinem Recht kommt. Nein, ich sehe nichts Ehrenrühriges darin, wenn ich sage: Ich war immer das Instrument des Choreografen.
Wenn das so wäre, müsste eine Choreografie doch immer automatisch zu ähnlichen Ergebnissen führen, egal wer sie tanzt.
Nein, denn viele Tänzer haben Angst, sich zu verlieren, wenn sie sich rückhaltlos öffnen. Ich hatte diese Angst nie. Ich habe mich immer hingegeben. Nur Crankos „Widerspenstige Zähmung“ war schwierig. Bisher hatte ich fast nur dramatische Stücke getanzt. Nichts Komisches. An einem Sonntag haben wir den Kampf-Pas-de-deux gestellt. Ich spürte: Ich war nicht echt. Richard Cragun, mein Tanzpartner, wurde wütend. Schließlich sagte ich zu Cranko: „I had enough. Ich mache Schluss.“ Und bin so bockig abgegangen, dass er mir nachrief: „Jetzt hast du’s. Jetzt bist du Katharina.“ Es war auf einmal eine andere Bewegungssprache: Es gibt eine Marcia vor ihrer „Zähmung“ und eine danach. Ich wusste jetzt, ich kann mich so bewegen, dass jeder lacht.
Ahnten Sie denn, dass Sie eines Tages das Stuttgarter Ballett leiten sollten?
Nein. Aber Cranko selbst hat damit geliebäugelt. Er träumte davon, dass ich ihn eines Tages als Direktorin ablöse, damit er sich aufs Choreografieren konzentrieren kann. Ich wollte das nicht. Er aber meinte: „Du hast den Kopf dafür.“ Und er hatte recht.
Aber Sie haben sich vermutlich nicht vorstellen können, auch mit achtzig noch in Amt und Würden zu sein, in Santiago de Chile.
Das hätte ich mir überhaupt nicht träumen lassen. Eigentlich wollte ich im vergangenen Jahr die Ballettleitung abgeben. Aber da übernahm Frédéric Chambert die Generaldirektion und bot mir einen weiteren Kontrakt an. Mein Kompanie ist jetzt in dem Zustand, den ich mir immer gewünscht habe. Aber eigentlich wollte ich zurück nach Deutschland, um mit meinem Mann zusammenzuleben . . . Mein Vertrag läuft bis 2023, mit der Klausel, jederzeit aufzuhören, sobald ich die Lust verliere.
Sie sind in einem Alter, in dem man beginnt, Bilanz zu ziehen.
Warum? Ich sage immer: Das Beste kommt noch, deshalb sehe ich nicht den geringsten Grund zum Bilanzieren. Das Leben ist doch nicht vorbei. Und ein Ruhestand ist für mich ohnehin undenkbar. Weil ich so viel erlebt habe, habe ich noch viel zu geben.
Aber macht es Ihnen keine Angst, dass Ihr Leben einmal enden wird?
Wenn man achtzig wird, ist die Wahrscheinlichkeit zwar größer, dass man sich morgen nicht mehr aus dem Bett erhebt. Aber meine Mutter ist mit 97 gestorben, meine Großmutter wurde hundert, meine Urgroßmutter 96. Deshalb bin ich sicher, noch einiges vor mir zu haben. Aber wenn der Moment kommt: Okay, let’s go.
Sie haben bedauert, dass es weder für Maurice Béjart noch für Richard Cragun einen Erinnerungsort gibt: Beider Asche wurde auf dem Meer verstreut. Ich glaube, bei Ihnen wird das anders sein. So wie es in Stuttgart heute einen John-Cranko-Weg gibt, wird es eine Marcia-Haydée-Straße geben.
Die gibt es bereits – nicht in Stuttgart, sondern zu meiner Verblüffung in Santiago de Chile. Ich wusste nichts davon, bis ein junger Zollbeamter bei einer Grenzkontrolle ungläubig in meinem Pass blätterte. Beunruhigt fragten wir, mein Mann und ich, nach dem Grund – und erfuhren, dass er in der Pasaje Márcia Haydée wohnt und bis dato keinen blassen Schimmer hatte, um wen es sich dabei handeln könnte.
Das Leben ist voller Überraschungen.
Ja, und ich erzähle Ihnen gerne immer wieder davon. Wir treffen uns also, wenn ich neunzig werde! Versprochen?
Das Gespräch führte Hartmut Regitz.