Im Theaterhaus tanzt die Gauthier Dance Company Marco Goeckes so minimalistischen wie fesselnden „Nijinski“ – Rosario Guerra feiert in der Titelpartie einen Triumph.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Die Bühnenflanken schwarz verhangen, der Boden weiß schimmernd, ansonsten: Leere. Später wird dieser Schwarz-Weiß-Kosmos von einem Lichtblitz erhellt, mal wird es rote Blütenblätter regnen, mal ein einsamer Sessel darauf platziert. Die meiste Zeit aber bleibt er eine Brache, die mit nichts anderem als reiner, vollendeter, fesselnder und betörender Tanzkunst gefüllt wird.

 

Minimalismus ist ein Markenzeichen des Stuttgarter Choreografen Marco Goecke. Bei seinem neuen abendfüllenden Ballett „Nijinski“, das am vergangenen Freitag vom Premierenpublikum mit stehenden Ovationen gefeiert wurde, liegt die Reduktion gleich dreifach auf der Hand. Denn der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts kreierte das Werk nicht fürs Staatstheater, sondern für die weniger ausstattungsverwöhnte Gauthier Dance Company des Theaterhauses. Vor allem aber steht der Name Waslaw Nijinsky, dem Goecke einen dritten i-Punkt schenkt, eben genau für das: Tanzkunst in Vollendung.

Doch bevor Rosario Guerra als Nijinsky in Erscheinung tritt und Mark Geilings dazu dessen Lebensdaten hauchend durchs Mikrofon jagt, schickt Goecke im ersten von neun ineinanderfließenden „Bildern“ eine gesichtslose Tänzergestalt auf die Bühne. In der zuckt, keimt und gärt es – da bahnt sich etwas Großes, Erquickendes an. Als daraufhin Terpsichore, die göttliche Muse des Tanzes (Garazi Perez Oloriz), auf den Impresario Sergej Diaghilew (David Rodriguez) trifft, schlägt die Geburtsstunde der Ballettmoderne: Die von Diaghilew gegründeten Ballets Russes schreiben Tanzgeschichte, und ihr Mitglied Nijinsky avanciert zum ersten skandalumwobenen Popstar des Tanzes.

Eine Parabel über Licht und Schatten des kreativen Schaffens

Mit diesem Prolog hebt Goecke seine Choreografie gleich von Beginn an über die bloße Biografie des russischen Tanzrevolutionärs (1889 – 1950) hinaus und weitet sie zu einer Parabel über Licht und Schatten des kreativen Schaffens schlechthin – und damit auch zu einer Erzählung über sich selbst.

Das von Ängsten, Unsicherheiten heimgesuchte Kind, das bei der polnischen Mutter (Alessandra La Bella) Trost findet; die Entdeckung des Tanztalents, der Drill im Ballettsaal, erotische Entdeckungen mit dem Freund Isajef (Luke Prunty), die Hassliebe zum eifersuchts- wie erfolgsgetriebenen Diaghilew, der Bühnenruhm, die Ehe mit Romola (Maria Prat Balasch), die Fallstricke der psychischen Krankheit: Mit makelloser, messerscharfer Tanzpräzision und bedingungsloser Versenkung in seine zwischen Genie und Wahn oszillierende Figur zieht Rosario Guerra in den Bann. Glaubwürdig stülpt er die innere Zerrissenheit nach außen, gelingen ihm ergreifende Momente der Erfüllung wie der abgrundtiefen Einsamkeit des Künstlers. Dabei harmoniert der Tanz Guerras wie des gesamten Ensembles perfekt mit Chopins aufwühlenden Klavierkonzerten Nr. 1 und 2; die Entstehung der Ballets Russes unterlegt Goecke mit den Wehmuts-Gesängen eines russischen Wiegenlieds.

Bewegungen werden zu Buchstaben der Goecke-Sprache

Im siebten Bild leuchten Nijinskys zentrale Rollen auf, freilich im ureigenen Goecke-Tanzidiom: Da ist der Faun aus seinem Ballett „L’après-midi d’un faune“ zur gleichnamigen Komposition von Claude Debussy, da ist Petruschka, der, mit weißem Flatterkragen um den Hals, eine Clownsträne weint. Dann ertönt ein lauter Knall, und es regnet rote Rosenblätter auf vier Tänzerinnen: der Auftakt zu einer Reminiszenz an „Le Spectre de la Rose“.

Weniger ist mehr. Das Formprinzip beherrschen Goecke, seine Bühnen- und Kostümbildnerin Michaela Springer sowie der Lichtdesigner Udo Haberland und die Dramaturgin Esther Dreesen-Schaback aufs Vortrefflichste. Eine Harfe auf Terpsichores Trikot steht für ihre Musenhaftigkeit; Tänzer, wie immer bei Goecke fast durchweg in schwarzen Hosen und nackten Oberkörpern oder hautfarbenen Bustieres, tragen Engelsflügel als Sinnbild für göttliche Inspiration; ein Taktstock, ein Mantel mit Pelzkragen – und fertig ist der Maestro Diaghilew. Am Schluss, als die Dunkelheit über Nijinskys Geist hereingebrochen ist, trägt dieser goldene Schuhe, die wie Eisenketten seinen Schritt fesseln.

Der bühnenbildnerische Purismus ist Bedingung und kongeniale Ergänzung zugleich für Goeckes reinen, skulpturalen, von Eric Gauthiers Kompanie so ungemein präzise, mit jeder Körperfaser durchdrungenen Tanz. Sinnlos, die nervös flatternden, rasenden, immer wieder auch geometrisch abgezirkelten Bewegungen, die vielfach von Armen, Händen in mannigfaltigen Variationen vollzogen werden, in sich verstehen zu wollen. Sie sind die Buchstaben der Goecke-Sprache; erst zusammengesetzt verdichten sie sich zu Bedeutungen, Gefühlen, Stimmungen.

Immer wieder betörende Bilder, an denen man sich nicht sattsehen kann

Meisterhaft beherrscht der 44-jährige Choreograf das Wechselspiel von Bewegungsfülle und Leere, von Tempo und Verlangsamung; dazwischen platziert er sparsame - und deshalb umso beredtere – pantomimische Gesten: Eine Hand an der Wange erzählt von Mutterliebe; Diaghilews spielende Finger auf Nijinskys Brust künden von Besitzanspruch.

Und immer wieder betörende Bilder, an denen man sich nicht sattsehen kann. Etwa wenn Nijinski, nachdem sich das „Wesen der Verdunklung“ (Anna Süheyla Harms) seiner bemächtigt hat, seinem Arzt (Alessio Marchini) gegenübersteht und dieser jede seiner Bewegungen wie ein Spiegel dupliziert, eine Anspielung an seine Rolle als Narziss. Ab und an zitiert Goecke sich selbst, lässt Salz rieseln und zündet Streichhölzer an; auch die eingestreute Akustik – Hauchen, Zischen, Hecheln, Stöhnen, abruptes Lachen – ist typisch für seine Arbeiten. Von seiner eigenen Version des „Spectre de la rose“, 2009 in Monte-Carlo uraufgeführt, leiht er sich die blütenbesetzten Unterarmstulpen, die an Nijinskys Originalkostüm angelehnt sind. Die Träumende setzt er in einen schwarzen Sessel, mit der Lehne zum Publikum: So versteckt der Spezialist für Rückenansichten ihren sich windenden Körper, nur Kopf und Hals, über die Armlehne ekstatisch nach hinten gedehnt, ragen hinaus.

Am Schluss lässt Goecke den Schizophrenen Kreise auf den Boden malen, tatsächlich hat Nijinsky während seiner Krankheit solche Zeichnungen hervorgebracht. Seine letzte Geste ist so pur und klar wie das ganze Stück: eine Verneigung. Die eines großen Tänzers vor dem Publikum wie vor seinem Leben. Und die eines großen Choreografen vor seiner Kunst.