Italiens Mario Balotelli hat Deutschland mit seinen beiden Treffern aus dem EM-Turnier geschossen. Dafür wird er geliebt – auch wenn er kein einfacher Zeitgenosse ist.

Sport: Heiko Hinrichsen (hh)

Warschau - Ist es nicht ein Geschenk an die Fußballwelt, dass Mario Balotelli erst 21 Jahre alt ist? Zu der Jugend des Italieners gesellt sich ein robuster Oberkörper. Davon konnte sich jeder Zuschauer des EM-Halbfinales gegen Deutschland überzeugen, als der Stürmer nach seinem Tor zum 2:0 oberhalb der Gürtellinie blank zog. Die Fans werden die Großtaten des Angreifers von Manchester City also noch eine ganze Weile bestaunen dürfen.

 

Das verspricht auch Spaß. Den hatten zunächst nur die Anhänger der Squadra azzurra, weil Mario Balotelli sie mit einem Kopfballtor und einem wuchtigen Schuss in den Winkel gegen die DFB-Elf zum 2:1-Sieg führte. „Ich habe Mario genau erklärt, was er in diesem Spiel zu tun hat. Das konnte er perfekt umsetzen“, sagte der italienische Trainer Cesare Prandelli, der nun am Sonntag (20.45 Uhr/ZDF) mit seiner Elf im Endspiel in Kiew auf die Spanier trifft.

Ein bisschen schmunzeln durften dann aber auch alle anderen Journalisten im Bauch des Nationalstadions von Warschau. Denn Mario Balotelli ist ein großes Kind, das auch abseits des Platzes gerne seine Mätzchen macht. Nach Spielschluss gab er sich diesmal im Stile einer Hollywooddiva. Also schritt der Angreifer mit den ghanaischen Eltern und dem Irokesenschnitt, der bei Pflegeeltern in Sizilien aufwuchs, wie auf einem roten Teppich wortlos an Kameras, Mikrofonen und Notizblöcken vorbei. Die beiden Diamanten, die er im Ohr trägt, funkelten dabei im Scheinwerferlicht, ehe Balotelli plötzlich doch noch anhielt. „Was soll ich groß sagen?“, murmelte Balotelli, im Wissen, ein besserer Fußballer als Redner zu sein, „ich habe meinen Job gut erledigt. Wer würde sich da nicht freuen?“

„Mario war heute brillant“

Cesare Prandelli konnte sich in der 70. Minute gar den Luxus erlauben, in Balotelli vorsorglich seinen besten Mann vom Platz zu holen. „Er hatte Muskelprobleme – da wollte ich im Hinblick auf das Endspiel nichts riskieren. Wir brauchen ihn“, sagte der Trainer einer Mannschaft, die dem deutschen Team die Grenzen aufgezeigt hatte. Denn wie Mario Balotelli, der bei dieser EM ganz schwer in Tritt kam und vor dem zweiten Vorrundenspiel gegen Kroatien aus der Startelf geflogen war, ist das Team Italien eine Wundertüte.

„Mario war heute brillant. Aber wir sind mehr als nur er allein – wir sind ein ziemlich starkes Team“, sagte der Mittelfeldmann Claudio Marchisio. Und tatsächlich hat Italien in diesem Turnier einen erstaunlichen Reifeprozess durchgemacht. Nach einem verheißungsvollen Auftakt – dem 1:1 gegen den anstehenden Endspielrivalen Spanien – waren die Azzurri in ein Leistungsloch gefallen. Sie spielten wieder 1:1 gegen Kroatien, was in der Heimat bereits als Niederlage gewertet wurde. Zumal allein der Denker und Lenker Andrea Pirlo die Elf mit seinem tollen Freistoßtor vor Schlimmerem bewahrte. Was folgte, war ein sehr mühsames 2:0 gegen Irland.

Doch die Italiener besitzen eine Qualität, die lange als typisch deutsch galt – und die jetzt im Finale den Spaniern zu schaffen machen könnte: Sie wissen sich im entscheidenden Moment zu steigern. „So sind wir eben. Gegen die Kleinen haben wir oft Probleme – aber mit den Großen sind wir dann oft auf Augenhöhe“, umschrieb der Torhüter und Kapitän Gianluigi Buffon dieses Phänomen.

War diese so unitalienisch attackierende Mannschaft im Viertelfinale gegen England schon gut, so war sie gegen Deutschland obendrein noch effizient. Italien stellte die Weichen mit zwei Toren vor der Pause frühzeitig auf Sieg. „Unsere größte Starke ist, dass meine Jungs den unbedingten Willen haben, die höchsten Ziele zu erreichen“, sagte Cesare Prandelli, der seit zwei Jahren im Amt ist – und für den Kurswechsel hin zu einer spielfreudigen, offensiven Squadra eigentlich mehr Zeit veranschlagt hatte.

Die Entdeckung des Turniers

Doch neben Balotelli, der schon jetzt die Entdeckung des Turniers ist, überzeugen vor allem die erfahrenen Spieler: Auf die Achse mit Gianluigi Buffon, 34, mit dem Mittelfeldduo Pirlo, 33, und Daniele De Rossi, 28, sowie dem Stürmer Antonio Cassano, 29, ist eine Bank. Bis auf den eigenwilligen Cassano, der ein rotes Tuch für den Prandelli-Vorgänger Marcello Lippi war, sind die Führungsfiguren von Italia 2012 allesamt Weltmeister.

Ungeachtet der Probleme des professionellen Calcio in der Heimat mit dem Wettskandal wollen die Routiniers nun mit den Spaniern gleichziehen – und sich auch noch die europäische Fußballkrone aufsetzen. Mit Hilfe der lauffreudigen, ballsicheren und zweikampfstarken Nebenleute von Andrea Pirlo wie Riccardo Motolivo, Claudio Marchisio und Thiago Motta erscheint dies nicht mehr unmöglich.

Kann die Wundertüte Italien mit ihren so extravaganten und so unterschiedlichen Charakteren nach dem EM-Erfolg von 1968, als man im Finale Jugoslawien mit 2:0 besiegte, zum zweiten Mal den Titel bei einer Europameisterschaft holen? „Spanien ist in diesem Spiel der große Favorit“, sagte der Linksverteidiger Giorgio Chiellini, „aber wir kennen auch ihre Schwächen.“ Und daran sollte niemand mehr zweifeln.