Bei Markus Lanz legt sich der Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mit der Tübinger Notärztin Lisa Federle an. Sie und der Journalist Heribert Prantl wollen mehr Eigenverantwortung der Bürger im Corona-Kampf.

Stuttgart - Warum muss Karl Lauterbach eigentlich immer der Spielverderber sein? Über eine Stunde lang wird bei Markus Lanz in seiner ZDF-Runde am Mittwochabend kein Wort über die Panne mit der Osterruhe verloren, aber viel geredet über die neue Impf- und Teststrategie, die verkorkste Einkaufspolitik der EU bei den Impfstoffen und gute Modellversuche in Tübingen und anderswo – und dann gießt der SPD-Gesundheitspolitiker ganz am Schluss noch mal Wasser in den Wein. „Tübingen ist nicht erfolgreich genug. Die Inzidenzen steigen auch dort“, sagt er. Auch auf die dort praktizierte Weise des massenhaften Testens lasse sich die neue Infektionswelle „nicht brechen“.

 

Tübingen hat Straßencafés geöffnet

Die auch eingeladene Tübinger Notärztin Lisa Federle, eine treibende Kraft des Modellversuchs, schaute da ziemlich konsterniert. Sie hatte zuvor schon darauf hingewiesen, dass die Inzidenz in Tübingen bei 70 liege – also auch seit November gestiegen sei – aber immer noch unter dem baden-württembergischen Landesdurchschnitt von über 100 liege. Nun also der Frontalangriff von Lauterbach? „Sie haben vergessen“, belehrte Federle den SPD-Politiker, „dass wir in Tübingen die Straßencafés, Kaufhäuser und Theater geöffnet haben. In unserer Stadt wird so viel getestet wie in keiner anderen Stadt.“

Kann man den Nasentests von daheim vertrauen?

Der Dialog stand beispielhaft für zwei Lehrmeinungen an diesem Abend, wie mit dieser Pandemie jetzt umzugehen sei. Ist es möglich, mehr auf Eigenverantwortlichkeit zu setzen, fragte Markus Lanz, und so wie in Österreich auch Nasentests daheim von Schülern zuzulassen oder muss der Staat alles vorschreiben und überwachen? Ja, sagte der um den Verlust der Grundrechte in der Corona-Krise besorgte Journalist Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung), es sei ein Versuch Wert, den Menschen mehr Eigenverantwortung zu geben, aber leider traue man sich das in Deutschland nicht und überlasse alles dem „vormundschaftlichen Staat“: „Es gibt Grenzen des rechtlich Regelbaren. Wir können nicht das ganze Leben regulieren.“ Nächtliche Ausgangssperren wie in Bayern und Baden-Württemberg, die 15-Kilometer-Regel und die Schließung der Wirtshäuser landesweit hält Prantl für kontraproduktiv, man müsse es organisieren, dass Menschen sich treffen könnten, und man müsse auch einmal überlegen, wie eigentlich ein Bundestagswahlkampf stattfinden könne. Im übrigen fühle er sich zurück versetzt in die Zeit vor einem Jahr, so Prantl, der Lockdown sei einfach verlängert worden, und es zeige sich jetzt nur „die ganz große Fähigkeit, die Grundrechte einzuschränken“. Von Lauterbach gefragt, mit welcher Strategie er, Prantl, denn die Pandemie jetzt bekämpfen wolle, antwortete der Journalist allerdings knapp: Mit „lokalisierten Regelungen“, denn „ein pauschalisierter Lockdown ist jetzt grundfalsch“.

Sie erhalte täglich Hunderte von Mails, sagt Lisa Federle

Auf mehr Eigenverantwortung und die Verknüpfung von Tests und Öffnung aber setzt auch Lisa Federle und der Tübinger Modellversuch. Sie erhalte täglich Hunderte von Mails von Bürgern, sagte die Notärztin, die könne sie gar nicht alle lesen, so viele seien es: „Die Leute sind hoffnungslos und glauben nicht mehr an die Politik. Sie sagen mir, verschaffen Sie sich Gehör. Die Menschen brauchen Wege aus der Krise.“ Wenn man die Bürger nicht mitnehme, dann würden sie sich „heimlich“ treffen, man brauche Konzepte, die die Bürger mittragen könnten. Und Tübingen habe so eins. Als die Talkrunde sich dann noch mal lange und detailliert mit den Versäumnissen der EU-Einkaufspolitik bei den Impfstoffen im Herbst 2020 auseinandersetzte und Lauterbach den „schlauen Einkäufer Donald Trump“ lobte, da mahnte Federle an, es habe doch keinen Zweck „jetzt in der Vergangenheit zu wühlen“: „Wir müssen doch schauen, wie geht es in Deutschland weiter. Ich bin für einen mehrgleisigen Weg: Impfen, impfen, impfen; testen, testen, testen. Und dann die Nachverfolgung sichern und in Therapiekonzepte investieren.“

Man müsse „härter rangehen“, sagt Karl Lauterbach

Mehr auf die Staatsmacht als Federle und Prantl aber vertraut Karl Lauterbach: Die Virus-Mutation B117 sei viel ansteckender und tödlicher, die Leute die daran schwer erkrankt seien und beatmet werden, würden für den Rest ihres Lebens gezeichnet sein: „Das ist eine neue Pandemie.“ Es bestehe die Gefahr, dass „uns die Lage aus der Hand gerät“. Er halte täglich Infektionszahlen von 30.000 bis 40.000 bald für möglich, nicht aber die vom Virologen Christian Drosten genannte Zahl von 100:000. „Wir müssen härter rangehen“, so Lauterbach. Hätte man früher gehandelt, hätte man diesen neuen „Lockdown alter Schule“ nicht gebraucht.

Lauterbach sieht auch ein Licht am Ende des Tunnels, durch das zweimal wöchentlich Testen an Schulen und Betrieben werde man 40 Prozent der Bevölkerung erreichen, aber nur durch Impfen werde man die Pandemie überwinden können. Bei den Schnelltests aber sieht der Sozialdemokrat auch eine Nachlässigkeit des Staates: „Die Betriebe haben durch Lobbyismus erreicht, dass sie keine Pflicht zum Homeoffice für ihre Mitarbeiter und zu den Tests erhalten. Ich würde mich wohler fühlen, wir wären da mit einer richtigen Pflicht reingegangen.“

Die Ethikratsvorsitzende ist Mutter – und wartet auf ein Schulkonzept

Schwankend zwischen der staats- und der bürgergläubigen Position äußerte sich die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx. Einerseits begrüßte sie es, dass die Ministerpräsidentenkonferenz ausdrücklich Modellversuche wie die in Tübingen oder auch ein Probekonzert in der Hamburger Elbphilharmonie zugelassen habe: „Es gibt viele Beispiele der Eigenverantwortung von Bürgern. Wir brauchen jetzt eine Multi-Akteurs-Verantwortung.“ Nicht nur der Staat sei eine Bühne in der Pandemiebekämpfung, auch Kommunen, Schulen, Unternehmer oder eine Handwerkskammer könnten das sein. Auf der anderen Seite beklagte Buyx zu wenig Staat und dass viele Instrumente im Corona-Kampf gar nicht eingesetzt werden, das reiche von Pflicht-Tests bis zu den „digitalen Tools“. Sie als Mutter, so Alena Buyx, warte im übrigen darauf, dass endlich ein „knackiges Konzept“ für die Schulen vorgestellt werde. Der Beschluss der Ministerpräsidenten sei da ziemlich weich ausgefallen. Baldmöglichst sollten zwei Tests pro Woche „angestrebt“ werden. Alena Buyx: „Sollen die freiwillig sein? Machen die Eltern das an ihren Kindern? Passiert das an den Schulen oder daheim? Ich sehe da nichts.“