Jedem Monat durchforstet unser Kolumnist für Sie die Bestsellerliste: Diesmal lässt ihn ein zeitgeschichtliches Historiker-Buch alt aussehen.

Stuttgart - Neulich saßen wir mit Freunden beim Essen zusammen. Mitten in der Konversation fiel mir auf, dass wir uns schon eine ganze Weile über frühere Zeiten unterhielten. Wir waren uns einig, dass die westliche Zivilisation den Bach runtergeht, weil kleine Kinder sich am Tisch nicht (mehr) benehmen können, Menschen keine langen Bücher (mehr) lesen mögen und die Jugend nicht (mehr) schwimmen lernt. Früher, als wir jung waren, war das besser. Bei Tisch war ich damals der perfekte Gentleman, mit zehn las ich „Krieg und Frieden“ in einem Rutsch durch und natürlich schwamm ich wie ein Delfin. Oder täuscht mich da meine Erinnerung?

 

Deren Unzuverlässigkeit gilt erst recht für historische Ereignisse, die man (meistens am Rande oder über die Medien) miterlebt hat. Vielfach werden sie so oft erzählt, wiedererzählt und dabei verändert, dass man Fakten und Fiktion nicht mehr auseinanderzuhalten vermag. Unser Gehirn neigt ohnehin dazu, sich die Vergangenheit rosarot zu färben. Wenn andere Menschen einen darin noch bestätigen, entsteht, was Historiker in letzter Zeit gerne ein Narrativ nennen. Zum Beispiel über die angeblich wunderbare Wohnungsversorgung in der DDR (die Gregor Gysi kürzlich beschwor) oder die angeblich herrliche soziale Sicherheit der Bundesrepublik der 70er Jahre, die in so großem Gegensatz zur heutigen Ungerechtigkeit zu stehen scheint.

Hohe Erwartungen

Zur Erdung bietet es sich an, zum Werk eines renommierten Zeithistorikers zu greifen, um die Umbrüche während der eigenen Lebensjahre von einer objektiveren Warte aus zu betrachten. Zum Beispiel zu Ian Kershaws „Achterbahn“ (Spiegel-Sachbuchbesteller Hardcover Platz 26, DVA, 832 Seiten, 38 Euro). Der Brite rekapituliert darin die Geschichte Europas von 1950 bis heute. Kershaw gehört zu den bedeutendsten lebenden Historikern. Seine Hitler-Biografie hat Maßstäbe gesetzt und bereits seine Geschichte Europas der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Titel „Höllensturz“ war ein viel gerühmter Bestseller.

Ich war also mit hohen Erwartungen an „Achterbahn“ herangegangen – und wurde enttäuscht. Das Buch liest sich streckenweise wie ein überlanger Wikipedia-Beitrag. Brav handelt Kershaw die inneren Entwicklungen jedes einzelnen Landes ab: Regierungskrisen in Italien, Bündniswechsel der Albaner, freizügige Filme in deutschen Kinos. Alles findet in ein, zwei Sätzen Erwähnung. Hingegen wertet er nur sehr vorsichtig und zurückhaltend, mit wenigen Ausnahmen wie bei der für ihn entscheidenden Rolle Michail Gorbatschows beim Zusammenbruch der Sowjetunion.

Den großen Bogen, der Blick auf übergreifende Entwicklungen scheut Kershaw. Sicherlich: Der Leser sieht bald einiges klarer. Etwa den beliebten Vorwurf vieler Erzkonservativer, die Achtundsechziger hätten eine wohlgeordnete Republik zerrüttet. In Wirklichkeit, so Kershaw, begannen viele gesellschaftlichen Veränderungen schon in den 1950er Jahren. Aber mit der Zeit ermüdet der enzyklopädische Anspruch des Historikers.

Hass und Verachtung

Vielleicht liegt meine Enttäuschung daran, dass ich mehr als die Hälfte jener Jahre bewusst miterlebt habe. So verfestigt sich der Eindruck, ich hätte dieses oder jenes Ereignis doch gerade eben erst in der Zeitung gelesen. Das ist anders, wenn es um die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geht. Harald Jähners Buch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955“ (Spiegel-Sachbuchbestseller Hardcover Platz 8, Rowohlt Berlin, 480 Seiten, 26 Euro) habe ich mit Faszination gelesen. Der Feuilletonist Jähner schreibt erzählerischer als Kershaw.

Vor allem ordnet er die einzelnen zeitlichen Abschnitte jeweils einem Leitmotiv unter. Im Kapitel „Das große Wandern“ etwa geht es unter anderem um die Heimatvertriebenen. Anders als das spätere Narrativ uns weismachen will, war deren Integration ein mühseliges Unterfangen. Denn was für ein Kulturschock, wenn sudetendeutsche Katholiken plötzlich bei württembergischen Pietisten einquartiert wurden. Die Fremden sprachen anders, feierten andere Feste, aßen andere Speisen. Folglich wurden die Vertriebenen keineswegs mit einem entschlossenen „Wir schaffen das!“ begrüßt, sondern stießen auf Hass und Verachtung. Plötzlich war nicht mehr von „ein Volk, ein Reich, ein Führer“ die Rede; die „deutschen Stämme“ entdecken ihre Eigenarten, in die diese Fremden überhaupt nicht hineinpassten.

Jähners Blick zurück stimmte mich sogar optimistischer für die Gegenwart. Vielleicht werde ich in 30 Jahren jungen Menschen auf ähnliche Weise von den Wirren der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts berichten. Ich muss es wissen. Ich bin dabei gewesen!