Jeden Monat durchforstet unser Kolumnist für Sie die Bestsellerliste: Diesmal sucht er in drei Büchern nach Wegen, wie eine sich anbrüllende Gesellschaft wieder ins Gespräch miteinander kommen kann.

Stuttgart - Vor einigen Tagen gelang es mir tatsächlich, für einen horrenden Betrag in einer Apotheke eine einzige Mundschutzmaske zu kaufen. Noch vor ein paar Wochen hätte ich für das gleiche Geld vermutlich zwanzig Stück bekommen. Aber vor ein paar Wochen war die Welt ja noch eine ganz andere. In vielen Ländern darf man zurzeit nur mit Gesichtsschutz zum Einkaufen. Vor Corona gehörte es für viele Rechtspopulisten zum Menschenrecht, seinem Gegenüber ins Gesicht glotzen zu dürfen. In fast allen westlichen Staaten wurde damals heftig über ein Burka-Verbot diskutiert. Heute ginge eine Burka wohl als ultimativer Beweis für Rücksicht und Umsicht im Angesicht des Virus durch. Der Fall macht klar, wie Diskurse von den gesellschaftlichen Umständen bedingt sind. In der Debatte ging es ja nicht eigentlich darum, ob man es als angenehm oder unangenehm empfindet, wenn man seinem Gesprächspartner nicht ins Gesicht sehen kann. Es ging auch nicht um die wenigen Frauen in der westlichen Welt, die eine Burka tragen, sondern es wurde eine winzige Minderheit in der Minderheit dazu genutzt, um das Bild von „der muslimischen Frau“ zu konstruieren. Das führte dazu, dass eine türkischstämmige, Kopftuch tragende Akademikerin und Publizistin wie Kübra Gümüsay in Talksendungen als Stimme der „modernen muslimischen Frau“ nur zu Burka und Kopftuch befragt wurde.

 

Eine Talkshow braucht Radau

Gümüsay pocht aber auf ihre Individualität. Im Grunde, schreibt sie in ihrem Buch „Sprache und Sein“ („Spiegel“-Sachbuchbestseller Hardcover Platz 4, Hanser, 208 S., 18 Euro), solle jeder nur für sich selbst stehen, weil jeder Mensch eine eigene Individualität besitze. Das Buch ist, anders als der Titel suggerieren könnte, keine philosophische Abhandlung, sondern eine Streitschrift. Am stärksten ist es dort, wo die Autorin aus ihrem Alltag erzählt. Von dem rechtspopulistischen Talkshowgast etwa, der vor der Sendung ganz nett zu sein scheint. Als die Kamera läuft, beginnt er zu hetzen. Klar, so eine Talkshow braucht ein bisschen Radau. Da ist es egal, wie sehr dadurch Menschen verletzt und stigmatisiert werden.

Gümüsays Anekdoten und ihre teilweise poetische Sprache verdecken leider ihre analytische Schwäche. Denn Kategorisierungen sind nicht nur unvermeidlich, sondern sie sind der Gegenstand genau jener Wissenschaft, die sich den Fragen der Autorin widmet: der Soziologie. Menschen mögen glauben, dass sie als Individuen handeln, von außen betrachtet reagieren sie als Kollektive erstaunlich ähnlich. Das schmerzt. Wie sehr, zeigt Gümüsay mit Verweis auf das Wort vom „alten weißen Mann“, auf das die Betroffenen außerordentlich allergisch reagieren. Ich zum Beispiel bin nicht mehr der Jüngste, weißer Hautfarbe und männlich. Aber als „alter weißer Mann“ in einem Topf mit Matthias Mattusek und Roland Tichy zu landen? Nein danke!

Täglich Dutzende Hassbotschaften

Da sollte man lieber zivilisiert miteinander reden. So wie der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und der Hamburger Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun in ihrem Buch „Die Kunst des Miteinander-Redens“ („Spiegel“-Sachbuchbestseller Hardcover Platz 28, Hanser, 224 S., 20 Euro). Präziser als Gümüşay erkunden sie, unter welchen Voraussetzungen eine sich nur noch anbrüllende Gesellschaft wieder in den Dialog treten könnte. Dabei fallen kluge, wenngleich ein bisschen zu naive Sätze: „Nicht die Widerlegung ist das erste Ziel des Miteinander-Redens, sondern das Erkennen des Anderen in seiner Andersartigkeit, vielleicht auch seiner Fremdheit.“ Wohl wahr. Dies kann jedoch nur unter zwei Bedingungen gelingen: Erstens müssen die Gesprächspartner an der Sache interessiert sein. Und zweitens müssen sie zwischen Fakten, ihrer Interpretation und Meinungen unterscheiden.

Was aber, wenn sie das nicht wollen? Schulz von Thun gibt zu, nie Adressat von Hassbotschaften gewesen zu sein. Das erleichtert das zivilisierte Gespräch. Der „Spiegel“-Redakteur Hasnain Kazim bekommt täglich Dutzende Hassbotschaften. Mit Bissigkeit, Schärfe und trotzdem einem angemessenen Maß an Offenheit erzählt er als Betroffener, wie er die akademischen Miteinander-Reden-Ratschläge in seinen Kommunikationsalltag umsetzt („Auf sie mit Gebrüll“, „Spiegel“-Sachbuchbestseller Paperback Platz 14, Random House, 208 S., 13 Euro). Ein winziger Trost: Mit einem Gesichtsschutz vor dem Mund kann man immerhin nicht lauthals brüllen.