Flüchtlingskrise, Referendum in Großbritannien, Eurokrise: 2016 könnte das Schicksalsjahr für die EU werden. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sieht eine „Katastrophe“ heraufziehen, wenn nicht bald gehandelt wird: „Uns läuft die Zeit davon.“

Stuttgart - Die Europäische Union steht vor einem Schicksalsjahr, da immer mehr Akteure nationale Lösungen für die vielen Krisen fordern. Der SPD-Politiker Schulz sieht eine „Katastrophe“ heraufziehen, wenn nicht bald entschieden gehandelt wird: „Uns läuft die Zeit davon.“

 
Herr Schulz, die EU hat schon an so vielen Stellen Schaden genommen – über welchen Brandherd sollen wir zuerst sprechen?
Die Flüchtlingskrise steht über allem. Wir müssen sie zwingend bewältigen. Aber nicht mit Obergrenzen oder Zäunen, die niemanden aufhalten, der vor Terror oder Bürgerkrieg flieht. Wir brauchen die gerechte Verteilung der Flüchtlinge.
Diese europäische Lösung, die auch Kanzlerin Merkel propagiert, scheint aber im Scheitern begriffen. Wäre es, da bisher kaum Flüchtlinge verteilt sind und ein Konsens zu einem dauerhaften System utopisch scheint, nicht an der Zeit, diese Idee zu begraben?
Ich verstehe die Frage, weil da ein Scheitern nicht ausgeschlossen ist. Die aktuellen Probleme dürfen uns aber nicht abhalten, weiter an die Vernunft zu appellieren und bei den EU-Staaten mit Argumenten für eine Beteiligung zu werben, damit das nicht alles in einer Katastrophe endet. Es gibt ja auch einige positive Zeichen: Die Portugiesen haben angedeutet, dass man mit ihnen über eine Verteilung reden kann.
Auch Polens alte Regierung ließ sich zum Mitmachen überreden und zahlte einen hohen Preis. Nun regieren Rechtspopulisten.
Die Rechtspopulisten, die auch Globalisierungsverweigerer sind und das Elend in Syrien nicht sehen wollen, gibt es nicht wegen der Flüchtlinge, die gab es schon vorher. Wir müssen den rechtspopulistischen Regierungen aber klarmachen, dass ihre Politik der Entsolidarisierung Folgen haben kann – und dann nehmen alle Schaden.
Es gibt auch genug Sozialdemokraten, die keine Flüchtlinge haben wollen.
Das ist tatsächlich nicht nur eine Frage der politischen Lager – ich kritisiere auch die slowakische Regierung. Es handelt sich auch nicht nur um eine Spaltung in Ost- und Westeuropa. Es gibt im Osten Leute, die sind für eine humane Flüchtlingspolitik, und es gibt im Westen Menschen, die strikt dagegen sind – etwa in Frankreich der Front National. Wir erleben eine Spaltung der europäischen Gesellschaften in einer zentralen Frage: Sind wir eine Gesellschaft, die es schafft, unsere politischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen in der Welt des 21. Jahrhunderts zu verteidigen? Oder stecken wir den Kopf in den Sand, weil wir dann die Globalisierung nicht sehen?
Wie viel Zeit gibt es noch für eine Lösung?
Unser Lösungsansatz mit einem Verteilungssystem, Rückübernahmeabkommen für abgelehnte Asylbewerber und einem verstärkten Einsatz zur Bekämpfung der Fluchtursachen ist bislang nicht erfolgreich, aber auch noch nicht gescheitert. Doch uns läuft die Zeit davon. Die Dramatik liegt ja gerade darin, dass die Konzepte eigentlich auf dem Tisch liegen – aber nicht angepackt werden.