Seit fast zwei Jahren streiten sich ein Künstler und ein Dynamohersteller im Tübinger Französischen Viertel über Lärmbelästigung. Der Konflikt im Mischgebiet hat Sprengkraft. Er könnte das Konzept des Vorzeigequartiers ins Wanken bringen.

Tübingen - Es sind die Wände, die vibrieren. Es ist der durchdringende Dauerton, der den Kopf schmerzen lässt. „Der Lärm ist die Hölle“, sagt der Tübinger Bildhauer Johannes Kares. Acht Kilo habe er verloren, der Ärger schlage ihm auf den Magen. Der 64-Jährige mit dem wilden Lockenkopf sitzt in seiner idyllischen Dachwohnung in den umgebauten Pferdeställen des Französischen Viertels, im Stockwerk darunter liegt sein Atelier. Ohne das Getobe der Kleinen vom Kinderhaus gegenüber könne er nicht leben, sagt Kares. Auch das Dröhnen der Bundesstraße vor seiner Haustür sei kein Problem. Nicht länger hinnehmen will er aber den Krach der sechs Fräs- und Drehmaschinen des benachbarten Nabendynamoherstellers. Wenn sie nicht abgeschaltet werden, so hat Kares dem Tübinger Baurechtsamt geschrieben, werde er sich öffentlich verbrennen.

 

Seine Drohung hat der Bildhauer mittlerweile zurückgenommen. Der von ihm angestoßene Lärmstreit dagegen beschäftigt seit fast zwei Jahren die Behörden und Anwälte. Er könnte das Konzept von Tübingens Vorzeigeviertel ins Wanken bringen. Auf dem ehemaligen Kasernengelände, wo bis 1991 die Franzosen stationiert waren, wird nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet. Etliche Praxen, Yogastudios, aber auch eine Autowerkstatt oder Zimmerei gehören zum Quartier. Gewerbe und Handel sind im Erdgeschoss, in den oberen Etagen finden sich Wohnungen. Alles ist möglichst autofrei – für Stadtplaner eine Mustersiedlung. Im Post Point geben Körperbehinderte Briefmarken aus, und die Baugemeinschaften sind Beispiele für gelebte Basisdemokratie. Eine Mischung mit Wohlfühlcharakter, die Städtebauer aus der ganzen Welt besichtigt und zum Vorbild genommen haben.

Das Miteinander im Tübinger Ökoquartier ist bedroht

Doch das Miteinander im Ökoquartier ist bedroht. „Die Fronten sind verhärtet“, sagt Baubürgermeister Cord Soehlke, es könne sein, dass der Betrieb des Dynamoherstellers untersagt wird. Die Rechtsprechung in Mischgebieten habe sich im Lauf der Jahre zuungunsten der Produktionsbetriebe verschärft, erklärt Soehlke. Er weiß um den baurechtlichen Graubereich. „Mischgebiet heißt, dass beide Seiten Rücksicht nehmen müssen“, sagt Soehlke. Schon in der Vergangenheit habe es manchen Lärmdisput gegeben, bisher hätten die Streitereien stets ein gütliches Ende gefunden. Eine Einigung wünscht sich auch Wilfried Schmidt, der seit 20 Jahren mit seiner Firma SON im Quartier Nabendynamos herstellt und bisher bestens in den Bebauungsplan des Französischen Viertels gepasst hat. „Wir sind der größte Hersteller von Nabendynamos in Europa“, sagt der Maschinenbauingenieur und Chef von 30 Angestellten, „und wir sind der einzige“, schiebt er lachend nach.

Die Halle, in die er mit sechs Werkzeugmaschinen gezogen ist, nutzt er ausschließlich zur Produktion. Das macht die Sache schwieriger, nun muss das Baurechtsamt entscheiden, ob der Produktionsbetrieb überhaupt zulässig ist. Ein Antrag auf Umnutzung der Räume mit 200 Quadratmeter Fläche wurde vor dem Einzug nicht gestellt, früher gab es in der Halle eine Maler- und Schreinerwerkstatt. „Wir brauchen Rechtssicherheit für alle Gewerbetreibende“, sagt Schmidt und hat vorsorglich seine lautesten Maschinen etwas gedrosselt.

Das größte Problem sei die durchgehende Betonbodenplatte, die sich durch die gesamten Pferdeställe zieht und den Schall von einer Gewerbeeinheit zur nächsten überträgt. Ein Überbleibsel aus Kasernenzeiten, so würde heute nicht mehr gebaut werden. Mehrmals wurden die Schallemissionen der Maschinen gemessen, nicht immer wurden die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten.

Vermieter der Halle sind Schlagerstar Dieter Thomas Kuhn sein Gitarrist Philipp Feldtkeller

Nicht nur Bildhauer Kares ist bereit, für sein Anliegen zu kämpfen. Auch die beiden Besitzer der vermieteten Halle, der Schlagerstar Dieter Thomas Kuhn, der selbst im Viertel wohnt, und sein Freund und Gitarrist Philipp Feldtkeller, wollen nicht klein beigeben. Sie haben angekündigt, juristisch gegen ein städtisches Verbot vorzugehen – wenn es sein muss, bis zum Mannheimer Verwaltungsgerichtshof.

Für Baubürgermeister Soehlke, ebenfalls ein Bewohner des Viertels, ist der Konflikt knifflig. Er wünscht sich, dass der Betrieb im Quartier bleiben kann. Den Lärm des Dynamoherstellers kennt er gut, er hat ihn früher selbst toleriert. Einige der Maschinen standen im Erdgeschoss des Hauses, in dem Soehlke im dritten Stock lebt. Vor produzierendem Gewerbe hat er keine Scheu: „Wir haben die Firma damals in unsere Baugemeinschaft reingenommen.“

Ein Runder Tisch mit allen Beteiligten kurz vor Weihnachten hat keine Einigung gebracht, jetzt muss die Stadt eine Entscheidung fällen. Vorsichtshalber habe man einen Plan B aufgelegt, verrät der Baubürgermeister: die Suche nach neuen Räumen für den Dynamohersteller läuft.