Vor siebzig Jahren richtete die SS im Dorf Sant’Anna di Stazzema ein Massaker an. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft weigerte sich jahrzehntelang, Justizverfahren gegen überlebende Verantwortliche einzuleiten.

Stuttgart - Das hatte keiner mehr erwartet. Im toskanischen Dorf Sant’Anna di Stazzema nicht, wo man sich an diesem 12. August an das schreckliche Blutbad erinnert, das deutsche Soldaten vor genau siebzig Jahren unter der Zivilbevölkerung angerichtet hatten, bei dem Hunderte von Frauen, Kindern und alten Menschen grausam ermordet wurden. In Stuttgart nicht, wo sich die zuständige Staatsanwaltschaft mit Rückendeckung durch die Politik jahrelang mit fadenscheinigen Begründungen geweigert hatte, Justizverfahren gegen noch lebende Verantwortliche der völkerrechtswidrigen „Strafaktion“ von Sant’Anna im Rahmen der Partisanenbekämpfung einzuleiten. Und in Hamburg nicht, weil die dortige Staatsanwaltschaft jetzt Ermittlungen aufnehmen muss, nachdem das Karlsruher Oberlandesgericht die Stuttgarter Archivierungsbeschlüsse zumindest in einem Fall revidiert und wegen des Wohnortes des Beschuldigen in die Hansestadt weiter geleitet hatte. In Hamburg könnte die Staatsanwaltschaft jetzt Anklage gegen einen heute 93-jährigen ehemaligen Kompaniechef erheben, der in Sant’Anna Befehlsgewalt hatte.

 

Doch die Karlsruher Entscheidung, dass die Einsatzplanung, „nicht auf die Partisanenbekämpfung beschränkt, sondern von vornherein auf die Vernichtung der Zivilbevölkerung von Sant’Anna di Stazzema gerichtet war“, kommt spät, vermutlich zu spät. Im Morgengrauen des 12. August vor siebzig Jahren erreichten vier Kompanien der 16. SS Panzergrenadierdivision „Reichsführer-SS“ zusammen mit Einheiten der Gebirgsjäger das Dorf Sant’Anna in den Apuanischen Alpen. Hier, in mehreren abgelegenen Siedlungen und Gehöften entlang eines Berghanges, hielten sich neben den rund 350 Einwohnern auch Flüchtlingsfamilien auf. Sie hatten Schutz vorm nahen Kriegsgeschehen gesucht.

Als die Einheiten der „Reichsführer-SS“ heranrückten, versteckten sich die Männer der Dorfbewohner und der Flüchtlinge in den Bergen. Sie fürchteten festgenommen und nach Deutschland in Arbeitslager verschleppt zu werden. Die zurückgeblieben Frauen, Kinder und Alten, so glaubten sie, würden die deutschen Militärs verschonen. Was sollte man ihnen schon vorwerfen? Doch italienische Denunzianten hatten Sant’Anna als ein „Partisanendorf“ beschrieben. Bei Überfällen von Widerstandskämpfern im Juli 1944 hatte es in der Toskana auch Verluste unter der Wehrmacht gegeben. Jetzt sollte ein Exempel statuiert werden. Als die Soldaten die ersten Häuser erreichten, erschossen sie ohne Vorwarnung die Zurückgeblieben oder trieben sie zum Kirchplatz. Sie töten das Vieh und setzten Häuser und Ställe in Brand. Nur wenige Menschen konnten fliehen.

Deutschland verweigerte die Auslieferung der Verurteilten

Vor der Kirche wurden mehrere Hundert Zusammengepferchte mit MG-Salven oder durch Handgranaten ermordet. Anschließend schüttete man Benzin auf die Körper der Frauen und Kinder und zündete sie an. Maurizio Verona, der Bürgermeister von Sant’Anna erinnert jetzt daran, dass die Überlebenden im Laufe der Jahre eine neue Existenz aufgebaut, geheiratet und Kinder bekommen haben, aber der 12. August sei eine Konstante in ihrem Leben geblieben, „eine Wunde, die nicht verheilt.“

Das Massaker, eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht in Westeuropa, blieb nicht nur lange ungesühnt. Die Erinnerung daran wurde auch unterdrückt. Ermittlungen der italienischen Behörden wurden in einen Schrank gesperrt und im Keller der römischen Militärstaatsanwaltschaft Jahrzehnte lang „vorläufig“ archiviert. Es galt im Kalten Krieg als nicht opportun, gegen Bürger der Bundesrepublik Deutschland, die 1955 NATO-Mitglied geworden war, Anklage zu erheben. Erst Mitte der 1990er-Jahre wurde dieser „Schrank der Schande“ wieder geöffnet. 2005 verurteilte ein italienische Gericht zehn noch lebende Verantwortliche des Massakers zu lebenslangen Gefängnisstrafen. Allerdings verweigerte Deutschland die Auslieferung der Verurteilten ebenso wie die Ausführung der Urteile auf deutschem Boden. Im Gegenteil lehnte die von der zentralen Stelle zur Aufklärung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (Ludwigsburg) beauftragte Staatsanwaltschaft Stuttgart mehrfach Ermittlungen gegen die in Italien verurteilten Deutschen ab, zuletzt 2013. Die Journalistin Christiane Kohl, die in Deutschland wie in Italien den Fall Sant’Anna öffentlich gemacht hatte, zeigte sich „zutiefst beschämt“ über die Weigerung der Stuttgarter Behörden, „sich ernsthaft mit der der Aufarbeitung deutscher Geschichte zu befassen“.

Die Kultur ermöglicht Versöhnung

Wo Justiz und Politik jahrzehntelang versagten, half die Kultur Erinnerung wach zu halten, Versöhnung zu ermöglichen. Der erste, der aktiv wurde, war Enio Mancini, der bereits in den achtziger Jahren in Sant’Anna ein Museum eingerichtet hatte. Am Tag des Massakers war er sechs Jahre alt war. Wie durch ein Wunder haben er und Teile seiner Familie überlebt. Das Wunder war ein deutscher Soldat. „Ein junger Mann, 17 oder 18 Jahre alt“, der eine Gruppe von Frauen und Kindern durch ein Waldstück führte, erzählt Mancini. Der Soldat, der mit ihnen allein war, schickte sie plötzlich weg und jagte sie den Berg hinauf. Während sie wegliefen, hörten sie Salven aus einer Maschinenpistole. „Erst dachten wir, der Soldat wollte uns erschießen. Aber dann sahen wir, dass er in die Luft zielte.“ Enio Mancini würde einiges dafür geben, wenn er den jungen Deutschen, der ihm und anderen damals das Leben gerettet hatte, wiederfinden könnte. Diese Erinnerung, so Mancini, habe ihm geholfen, nicht zu hassen, „nicht alle Deutschen als Verbrecher“ zu sehen. Er wurde so zu einem Streiter für Versöhnung.

Enio Mancini, der in diesem Jahr 77 Jahre alt wird, hat unermüdlich Schülern und Touristen, Staatshäuptern und Wissenschaftlern von dem Schrecken des 12. August erzählt. Man meint, den Klang seiner Stimme zu hören, wenn man diese Erinnerungen jetzt in einem Buch nachliest, das gerade in deutscher Übersetzung im Laika-Verlag unter dem Titel „Das Massaker von Sant’Anna di Stazzema“ erschienen ist. Mancini wurde zusammen mit Enrico Pieri, einem weiteren engagierten Überlebenden, im vergangenen Jahr der Friedenspreis der Stuttgarter Bürgervereinigung AnStifter verliehen. Die von Peter Grohmann gegründete Vereinigung hatte sich in der Vergangenheit auch stark für eine juristische Aufarbeitung des Blutbads in Deutschland eingesetzt. Zum siebzigjährigen Gedenktag ist jetzt eine Delegation der AnStifter in die Toskana gefahren.

Eine Benefizaktion ersetzt die zerstörte Orgel

Zum Jahrestag sind auch die Essener Musiker Horst und Maren Westermann angereist, die mit einer beispiellosen Initiative dem Ort eine Kirchenorgel wiedergeben haben. Denn auch die Kirche war von Deutschen an jenem 12. August verwüstet und die Orgel zerstört worden. Maren Westermann wollte mit dieser „kleinen Friedensinitiative“, wie sie es nennt, „erinnern für die Zukunft“. Sie kam 1997 zum ersten Mal eher durch Zufall nach Sant’Anna und fing an, darüber nachzudenken, wie ihre Musikerfamilie ein Zeichen setzen könnte, damit für Kinder in Zukunft Frieden nicht nur ein großes Wort bleibt. Durch eine Sammelaktion mit Benefizkonzerten und Hilfeaufrufen kamen über 70 000 Euro zusammen. Im Sommer 2007 wurde die neue Orgel eingeweiht. Nach sechzig Jahren Schweigen kehrte Musik in die kleine Kirche zurück. Seitdem finden in Sant’Anna jedes Jahr „Friedenskonzerte“ statt.

Die Konzerte wurden anfangs durch die Hamburger Zeit-Stiftung unterstützt. Deren Vorsitzender Michael Göring ging die Begegnung mit der Gedenkstätte und dem Ort so nahe, dass er die Geschichte in einem Roman unter dem Titel „Vor der Wand“ verarbeitete. Göring beschreibt in einem Nachwort seine Enttäuschung über die fehlende Aufarbeitung des Massakers von Sant’Anna durch die deutsche Justiz. Nach der Entscheidung des Karlsruher Gerichts, jetzt doch Ermittlungen zu ermöglichen, sagt er im Gespräch, kein Urteil könne das „Hinschlachten von Zivilisten“ jemals wieder gut machen. Auch gehe es jetzt nicht darum, einen über neunzigjährigen Greis ins Gefängnis zu stecken, sondern sich gleichsam mit einem Urteilsspruch „im Namen des Deutschen Volkes“ das Unrecht anzuerkennen und sich zu entschuldigen.