Viele Chinesen kehren ihrem Land den Rücken – sie wollen bessere Luft, bessere Bildungschancen, besseres Essen. Hauptziele sind Australien, die USA und Kandada.

Korrespondenten: Inna Hartwich

Peking - Als ihre Tochter immer weiter schrie, dachte Wang Minghan nur noch eines: weg von hier, raus aus China. Sie war 31, das Kind gerade geboren. Draußen bedeckte das Pekinger Grau den Himmel. Eine Luft, die nach Schwefel riecht, die Augen reizt, den Hals. Rausgehen, das Baby durch den Park schaukeln? „Ich wollte das der Kleinen nicht antun.“ Der Auswanderungsgedanke setzte sich fest, wurde mit steigenden Smogwerten größer. Zwei Jahre später die ersehnte Bewilligung. Doch will man die Heimat wirklich verlassen? „Ja, für die Tochter.“

 

Die Designerin Wang Minghan und ihr Mann Wang Kaiyuan, ein Elektro-Ingenieur, packten das Kind, packten die Sachen und gingen – nach Australien. Seit März lebt das Paar in Melbourne. „Die beste Idee in unserem Leben“, sagt Wang Minghan, als sie über Skype von Euphorie und Enttäuschungen in ihrem neuen Zuhause erzählt. Immer mehr Chinesen entscheiden sich zu gehen. Auf neun Millionen beziffern chinesische Medien, die Zahl derer, die 2013 im Ausland lebten. Es sind nicht nur die, die für immer gegangen sind. Dennoch sprechen selbst Chinas Behörden von einem Massenexodus. Zunächst waren es die Reichen, die die Konsulate stürmten, um ein sogenanntes Investorenvisum zu bekommen. Die USA lockten stets damit, 80 000 Chinesen bekommen jedes Jahr das Daueraufenthaltsrecht in den Staaten. Auch Kanada verteilte die Dokumente zuhauf. Bis sich Anfang dieses Jahres knapp 54 000 Anträge in den Büros des kanadischen Konsulats in Hongkong türmten.

Kanada hat seine Programme eingefroren

In der chinesischen Sonderverwaltungszone war es stets einfacher als in Festlandchina, ein Visum zu bekommen. Die Kanadier waren mit dem Zulauf überfordert und froren die Programme ein. Australien wirbt ebenfalls um Geldgeber, und in Europa machen es vor allem Portugal, Italien und Griechenland den Chinesen leicht, erst eine Aufenthaltsbewilligung und später einen Pass zu bekommen.

Mittlerweile aber sind es nicht nur die superreichen Unternehmer, die nach einem Leben fernab der Volksrepublik streben. Es sind auch immer mehr Menschen wie die Wangs, gut ausgebildet, gut verdienend. Sie suchen nach Jobs in den USA, in Kanada und Australien, den drei beliebtesten Ländern, sie durchlaufen Tests und Quotenregelungen. Manche warten bis zu sechs Jahre auf ein Visum.

„Selbst die unteren sozialen Klassen tun viel dafür, um China zu verlassen“, sagt Zhu Wangping in seinem Hochhausbüro mitten  in Peking. Seine Beratungsfirma Can- Reach (Pacific), 1995 gegründet, war das erste Unternehmen in China, das Planung und Organisation für die Ausreise von Chinesen übernahm. 100 Menschen kümmern sich um Anträge, Sprachkurse, Wohnungen für ihre Kunden, die ein „entspannteres Leben in der Ferne beginnen wollen“, wie Zhu sagt. Auch er selbst ging für einige Jahre nach Kanada, investierte dort, hat nach wie vor ein Daueraufenthaltsrecht. Seine Frau lebt mit den Kindern bei Vancouver, auch seine Mutter. „Es ist ein angenehmeres Leben dort. Doch das Geld macht man hier, in China.“ Vor allem Umweltbedingungen seien ausschlaggebend für den Weggang. „Bessere Luft, stressfreiere Ausbildung, sichere Lebensmittel“, sagt der Berater. Kanada zum Beispiel habe gerade einmal 35  Millionen Einwohner – und so viel unbebaute Fläche. Die Motivation läge auf der Hand: ein wachsendes Krisengefühl in China. Unsicherheit und Angst machten sich in Bezug auf die Zukunft breit.

Die verletzenden Sprüche hören nicht auf

Die Wangs sind mittlerweile entschlossen, Australier zu werden. 50 000 Chinesen versuchen das jedes Jahr. Er hat als Elektro-Ingenieur schnell einen Job gefunden, sie tut sich als Designerin schwerer, aber will weiter suchen. Die beiden genießen das neue Leben mit ihrem Töchterchen. Allerdings ist nicht alles nur rosig: An die verletzenden Sprüche, weil sie Chinesen sind, werden sich die beiden nie gewöhnen.

Ausreiseberater Zhu Wangping weiß, wie stark die Bindung der Ausgewanderten zu ihrer Heimat ist. „Wissen und Kapital fließen zurück in das Ursprungsland. Das ist sowohl für die chinesische als auch für die ausländische Wirtschaft gut“, sagt er, „das ist für alle eine Win-win-Situation.“